Nach der Protestwelle fanden im Iran nun die ersten Todesurteile und Hinrichtungen statt. Auf den Straßen sei es ruhiger geworden, berichten Iraner:innen. Hat das Regime es geschafft, die Bevölkerung durch Gewalt zum Schweigen zu bringen? Hier erzählen vier Iraner:innen, wie sie die Stimmung im Land wahrnehmen. Um ihre Sicherheit zu gewährleisten, sprechen alle vier anonym. 

"Auf die Straße zu gehen, erfordert Energie – und davon gibt es seit den Hinrichtungen nicht mehr viel"

Babak*, Anfang 30, Rasht

Eigentlich bin ich überrascht, dass die Wut der Bevölkerung erst so spät ausgebrochen ist. Schon vor dem Mord an Jina Mahsa Amini gab es viele Gründe, wütend zu sein: der Umgang des Regimes mit der Corona-Pandemie, die anhaltende Wirtschaftskrise, die staatlichen Repressionen. All diese Gründe der Wut existieren bis heute. Die Gesellschaft hat sich nicht beruhigt. 

Ich wurde am ersten Tag der Proteste inhaftiert und erst etwa sechs Wochen später wieder entlassen. Jeden Tag kamen neue inhaftierte Protestteilnehmer hinzu. Immer erzählten sie von den anhaltenden Demonstrationen. Wir waren überrascht von der Ausdauer der Menschen auf der Straße. 

Mittlerweile hat die Zahl der Straßenproteste abgenommen. Auf die Straße zu gehen, erfordert Energie – und davon gibt es seit der Gewalt, den Repressionen, den Todesurteilen, den Hinrichtungen nicht mehr viel. Die Hinrichtungen beweisen, dass unser Leben nichts wert ist. Die Todeszahlen sind so hoch, dass die Opfer mittlerweile nur eine Zahl sind, ohne Persönlichkeit, ohne Geschichte. Wir sind erschöpft. Aber der Aufstand hat andere Formen gefunden: Es wird ziviler Ungehorsam geleistet, abends Parolen gerufen, Sprüche auf Wände gesprüht. 

Langfristig glaube ich, dass jede Gelegenheit uns auf die Straße treiben wird. Auch die ökonomische Situation zwingt uns dazu.

"Festnahmen und Entführungen von Aktivist:innen gehören inzwischen zum Alltag"

Roja*, Ende 20, Kurdistan 

In Kurdistan ist das Ausmaß der staatlichen Unterdrückung beispiellos. Festnahmen und Entführungen von Aktivist:innen gehören inzwischen zum Alltag. Vor Gericht werden die Inhaftierten zu harten Strafen verurteilt. Es gibt auch Todesurteile. Jedoch ist das meiner Meinung nach nicht der Hauptgrund für den Rückgang der Proteste. 

Es ist wichtig, zu sagen, dass die Proteste nicht komplett aufgehört haben: Viele gehen beispielsweise am 40. Tag nach der Hinrichtung einer Person auf die Straße und auf Friedhöfe (Anm. d. Red.: Im Iran dauert die Trauerphase traditionell 40 Tage). Und es gibt immer wieder Streiks. Dass auf den Straßen nicht so viel los ist wie noch vor wenigen Wochen, liegt meiner Beobachtung nach an verschiedenen Faktoren: Erstens fehlt es an Organisationen. Man kann die Menschen nicht dauerhaft auf den Straßen halten, ohne sie zu organisieren. Auf eigene, spontane Initiative kann es nicht ewig weitergehen. Zweitens ist sich die Opposition uneinig. Einige wollen die Proteste für sich vereinnahmen und die Forderungen der anderen Gruppen ignorieren. Der tatsächliche Grund für die Abnahme der Proteste ist also nicht die staatliche Unterdrückung, sondern das Scheitern der Opposition. 

"Die Gewalt hat Auswirkungen: Die Menschen haben Angst"

Sima*, Mitte 20, Teheran 

Die Unterdrückung kennt keine Grenzen. Sicherheitskräfte halten uns auf der Straße willkürlich an, durchsuchen unsere Taschen und lassen sich Handybildschirme entsperren. Wenn etwa ein politisches Foto auf dem Handy gespeichert ist, wird man festgenommen. Diese Gewalt hat Auswirkungen: Die Menschen haben Angst. 

Hinzu kommt: Nach etwa 100 Tagen des Protests geht es vielen Protestierenden wirtschaftlich sehr schlecht, da sie kaum gearbeitet haben an diesen Tagen. Das ist ein Grund für den Rückgang der Proteste. Aber es gibt meiner Meinung nach noch einen wichtigeren: Den meisten Menschen im Iran geht es in erster Linie darum, dieses Regime zu stürzen. Danach kann man sich streiten, welches System zu dem Land passt. Aber wir wollen nicht, dass durch unseren Protest andere die Macht ergreifen. Und derzeit ist es insbesondere die Opposition im Ausland, die danach strebt, an die Macht zu kommen. Das wollen wir nicht. 

An dem Glauben, dass dieses Regime wegmuss, hat sich nichts geändert. Was sich geändert hat, ist die Strategie der Protestierenden: Vielleicht warten sie auf die nächste große Möglichkeit, wieder die Straßen erobern zu können. 

"Wenn es einen Weg gäbe, den Iran zu verlassen, würde ich das inzwischen tun"

Maryam*, Anfang 30, Rasht

Auf den Straßen in Rasht ist es viel ruhiger als noch vor einem Monat. Nach den Todesurteilen und der Folter von Gefangenen haben viele Bekannte von mir Angst auf die Straße zu gehen und zu protestieren. Ich auch. 

Auf den Straßen herrscht Willkür: Mein Partner saß vor einem Monat im Auto und hupte, wie alle anderen Autos vor ihm. Da erschoss ein Mann den Fahrer im Auto vor ihm – einfach so. Immer wieder werden Frauen von Männern in Uniformen geschlagen oder festgenommen. Auf den Straßen in meinem Viertel sehe ich dennoch kaum Frauen mit Hidschab. Viele Freunde von mir wurden auf der Straße kontrolliert. 

Mich stresst es sehr, rauszugehen, man weiß nie, was passiert, wer einen angreift, schlägt oder beschimpft. Und trotzdem: Ich werde nie wieder einen Hidschab auf der Straße tragen. Das habe ich mir geschworen. Ich werde nie wieder die Person sein, die ich war, bevor Mahsa Amini getötet wurde.

Manchmal schäme ich mich, dass die 16-jährige Nika Shakarami getötet wurde und ich noch lebe. Um nicht die Hoffnung zu verlieren, versuche ich mehrere Stunden am Tag das Internet zu meiden, ich arbeite, so viel ich kann, und ich habe begonnen, Marihuana zu rauchen. Meistens funktionieren all diese Ablenkungen natürlich nicht. Wir sind gerade inmitten einer Revolution. Da ist es ja normal, dass man sich schlecht fühlt. Die größten Sorgen, die ich habe: dass ich oder meine Liebsten sterben. Und dass ich nicht die Zerstörung der Islamischen Republik miterlebe. 

Was sich auch noch geändert hat, ist der finanzielle Druck. Alles ist teurer geworden und wir verdienen weniger. Viele Menschen haben Probleme, ihre Ausgaben bezahlen zu können. Trotzdem will ich, dass die Welt den Handel mit diesem Regime abbricht. Wir brauchen Hilfe von außen. Die Regierung hat gezeigt, dass sie nicht davor zurückschreckt, die eigenen Bürger zu verletzen. 

Wenn es einen Weg gäbe, den Iran zu verlassen, würde ich das inzwischen tun. Ich werde den Iran nie vergessen, werde immer für die Freiheit des Landes kämpfen. Aber die Situation hier ist so ermüdend, der Kampf wird noch so lange dauern. Viele Freunde von mir sehen das anders, sie sind motiviert, das Land zu verändern. Aber ich würde gerne einfach ein normales Leben führen.