Viele Menschen schätzen ihr Umfeld diverser ein, als es ist. Eine aktuelle Studie nennt dieses Phänomen die „Illusion der Vielfalt“. Wieso neigen wir zu solchen Fehleinschätzungen – und was bedeuten sie für das gesellschaftliche Miteinander?
Diversität bedeutet – vereinfacht gesagt – gesellschaftliche Vielfalt. Eine diverse Gesellschaft setzt sich aus individuellen Menschen zusammen, die sich in bestimmten Merkmalen und Eigenschaften voneinander unterscheiden. Konkret können sich diese Unterschiede zum Beispiel auf die Nationalität oder die ethnische Herkunft, auf den sozialen Hintergrund, die Weltanschauung oder die Religionszugehörigkeit beziehen. Auch in Hinblick auf Alter, Geschlecht und sexuelle Orientierung ist eine Gesellschaft nicht einheitlich, sondern divers aufgebaut.
Solche Unterschiede können gelegentlich für Spannungen und Konflikte zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen sorgen. Werden die Unterschiede gegenseitig angenommen und respektiert, stellen sie aber zugleich eine Chance für ein vielseitiges und tolerantes Miteinander dar.
Manche Eigenschaften eines Menschen sind nicht auf den ersten Blick ersichtlich, etwa die Weltanschauung, die Religion oder die sexuelle Identität. Andere wie das Alter, das biologische Geschlecht oder die ethnische Herkunft lassen sich zumindest teilweise an äußeren Merkmalen festmachen. Das Problem dabei: Unsere Wahrnehmung von Äußerlichkeiten ist oft viel subjektiver, als wir denken.
Studie aus Israel: Wie nehmen wir gesellschaftliche Minderheiten wahr?
Eine aktuelle Studie aus Israel hat sich mit dieser Wahrnehmungsfrage befasst: Sie untersucht, wie die Gesellschaft ethnische Minderheiten anhand äußerlicher Merkmale wahrnimmt. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass Menschen den Anteil von Minderheiten in ihrem Umfeld oft deutlich höher einschätzen, als er in Wirklichkeit ist. Sie illustriert das am Beispiel der Minderheit arabischstämmiger Israelis an der Hebrew University of Jerusalem.
Die rund 900 Teilnehmenden der Studie teilten sich in eine Gruppe israelischer Jüd:innen und eine Gruppe israelischer Palästinenser:innen auf. In mehreren Experimenten sollten die Gruppen jeweils eine Einschätzung abgeben, wie viele arabischstämmige Menschen sie in verschiedenen Umgebungen sahen – zum Beispiel auf dem Universitätscampus oder auf einer Fotocollage. Beide Gruppen verschätzten sich dabei stark: Sie gaben den Anteil arabischstämmiger Studierender an der Universität mit gut 30 Prozent an, tatsächlich lag er aber bei unter zehn Prozent. Diese Fehleinschätzung trafen nicht nur Angehörige der jüdisch geprägten Mehrheitsgesellschaft, sondern auch Angehörige der palästinensischen Minderheit.
Ein vergleichbares Ergebnis lieferten zusätzliche Versuche, die das Forschungsteam in den USA durchführte: Hier sollten Proband:innen den Anteil von People of Colour auf Fotos bestimmen und überschätzten sich dabei um bis zu 40 Prozent. Auch bei diesen Experimenten unterschied sich die Einschätzung von Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft kaum von den Zahlen, die Angehörige gesellschaftlicher Minderheiten nannten.
Kognitive Verzerrung und die „Illusion der Vielfalt“
Dieses Phänomen bezeichnen die Autor:innen der Studie als „Illusion der Vielfalt“. Dahinter steht eine einfache Erklärung: Laut der Erstautorin Rasha Kardosh ist unsere Wahrnehmung darauf ausgelegt, ungewöhnliche oder unerwartete Umgebungsreize intensiver wahrzunehmen als das, was für uns der Norm entspricht.
Ethnische Minderheiten, die sich optisch von der Mehrheitsgesellschaft abheben, interpretiert unser kognitives System also als etwas Unerwartetes. Dadurch, dass uns Normabweichungen in unserem Umfeld stärker auffallen als Normentsprechungen, kann es zu einer sogenannten kognitiven Verschiebung kommen: Weil wir Angehörige von Minderheiten intensiver und bewusster wahrnehmen als Angehörige von Mehrheiten, schätzen wir ihre Anzahl oft höher ein, als sie tatsächlich ist.
Die Forscher:innen gehen davon aus, dass die „Illusion der Vielfalt“ unabhängig davon ist, ob jemand eine positive oder negative Einstellung gegenüber Minderheiten hat. Dafür spricht insbesondere die Beobachtung, dass Menschen, die selbst einer Minderheit angehören, sich genauso verschätzen wie Angehörige der Mehrheitsgesellschaft. Wer sein Umfeld diverser wahrnimmt, als es ist, tut das also weder aufgrund besonderer Sympathie noch aufgrund besonderer Ablehnung für bestimmte Gesellschaftsgruppen.
Ist die „Illusion der Vielfalt“ ein Problem?
Trotzdem können die Konsequenzen einer solchen Wahrnehmung problematisch sein. In der Studie wirkte sich die „Illusion der Vielfalt“ etwa negativ auf die Bereitschaft vieler Proband:innen aus, Förderprogramme für Minderheiten zu unterstützen. Aufgrund ihrer viel zu hohen Einschätzung gingen sie davon aus, dass Maßnahmen zur Diversitätsförderung an Universitäten gar nicht nötig seien. Offener für solche Programme zeigten sie sich dagegen, wenn sie mit den tatsächlichen, weit geringeren Zahlen konfrontiert wurden.
Diese Erkenntnisse lassen sich auch auf andere Bereiche übertragen – zum Beispiel auf die Arbeitswelt. Gerade in führenden Positionen sind gesellschaftliche Minderheiten häufig noch unterrepräsentiert, die Vorstände von Unternehmen oft wenig interessiert an Diversität. Die Bereitschaft, etwas daran zu ändern, setzt zunächst ein Problembewusstsein voraus. Die „Illusion der Vielfalt“ kann dabei im Weg stehen und den Eindruck erwecken, es bestünde gar kein Handlungsbedarf.
Die eigene subjektive Wahrnehmung ist also nicht immer ein verlässlicher Kompass. Die Autor:innen der Studie betonen deshalb, wie wichtig es sei, gesellschaftliche Diversität anhand konkreter Fakten vor Augen zu führen. So ließe sich manche Illusion schnell widerlegen.
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