Eine Mutter, die bei einem Spielplatz vor den Augen ihrer vierjährigen Tochter von einem Geschoss getroffen wird und in einer Blutlache zusammenbricht. Ein 16-Jähriger, der in seinem Wohnhaus durch den Einschlag eines Geschosses stirbt. Ein 45-jähriger Briefträger, der auf seinem Fahrrad von einem Schrapnell getroffen wird – er überlebt wohl nur, weil er zufällig eine Axt im Rucksack dabei hat, deren Stahl weitere Teile abfängt.
All diese Fälle haben sich laut einer Untersuchung der Menschenrechtsorganisation Amnesty International in der ukrainischen Großstadt Charkiw abgespielt. Und dabei soll sogenannte Streumunition zum Einsatz gekommen sein, bei der viele kleine Sprengkörper freigesetzt und über ein weitflächiges Gebiet verteilt werden (lesen Sie hier im Interview mit einer Expertin, warum Streumunition so tückisch ist ). Der Amnesty-Bericht über die Toten von Charkiw wurde am heutigen Montag veröffentlicht.
Vielzahl von Bombenangriffen: Ein Mann vor einem zerstörten Supermarkt in Charkiw
Foto: SERGEY BOBOK / AFPDass Russland bei seinem Angriff auf die Ukraine Streumunition benutzt, wird schon seit Längerem vermutet – immer wieder gibt es Berichte über entsprechende Fälle. Amnesty-Mitarbeiter haben nun 14 Tage in Charkiw verbracht, um systematisch Belege für die Verwendung von Streumunition zu sammeln. Die 1,5-Millionen-Einwohner-Stadt war insbesondere zu Beginn des Krieges Schauplatz heftiger Kämpfe.
62 Tote, fast 200 Verletzte
Für den Bericht untersuchte Amnesty 41 Angriffe in der Gegend. Bei den untersuchten Attacken starben dem Report zufolge 62 Zivilisten, fast 200 weitere wurden verletzt. Die Amnesty-Rechercheure sprachen mit 160 Personen, darunter Ärztinnen, Augenzeugen und Angehörige. Zudem analysierten sie Sachbeweise an bombardierten Orten, etwa Munitionssplitter, und werteten digitales Material aus.
Der Befund des Berichtes ist eindeutig: Russische Truppen haben demnach in Charkiw mit Streumunition und ungelenkten Raketen Hunderte Zivilisten getötet. Der Einsatz solcher Waffen in Wohngebieten führe fast unausweichlich zu zivilen Opfern und stelle damit ein Kriegsverbrechen dar, heißt es in dem 40-seitigen Report.
»In Charkiw wurden Menschen in ihren Häusern und auf der Straße getötet, während sie mit ihren Kindern Spielplätze besuchten, auf Friedhöfen ihrer Angehörigen gedachten, beim Anstehen für Hilfslieferungen oder beim Einkaufen«, sagt Janine Uhlmannsiek, Amnesty-Expertin für Europa und Zentralasien. Es sei schockierend, dass russische Truppen wiederholt Streumunition in Wohngebieten eingesetzt hätten.
»Die Verantwortlichen müssen vor Gericht«
Streumunition wird von vielen Staaten geächtet. 110 Länder haben das »Übereinkommen über Streumunition« der Vereinten Nationen ratifiziert, das den Einsatz solcher Waffen verbietet. Begründet wird das Verbot unter anderem damit, dass bei der Verwendung von Streubomben häufig Menschen verletzt oder getötet werden, die nicht an Kämpfen beteiligt sind. Zudem stellen unkontrolliert verteilte Blindgänger eine anhaltende Bedrohung für die Zivilbevölkerung dar.
Länder wie die USA, China und auch Russland haben das Abkommen bisher allerdings nicht unterzeichnet. Amnesty wertet das Vorgehen russischer Truppen in Charkiw dennoch als Kriegsverbrechen. Laut humanitärem Völkerrecht ist es verboten, Waffen einzusetzen, die militärische Ziele und geschützte Zivilpersonen unterschiedslos treffen können.
Dieses Gebot haben russische Truppen dem Bericht zufolge wiederholt missachtet, indem sie Wohngebiete in Charkiw mit Streumunition bombardierten und so viele zivile Opfer in Kauf nahmen. »Die Verantwortlichen für diese Angriffe müssen vor Gericht gestellt und die Verletzten sowie die Angehörigen der Opfer müssen entschädigt werden«, sagt Amnesty-Expertin Uhlmannsiek.
Der Bericht kritisiert allerdings auch die ukrainischen Streitkräfte: Diese hätten entgegen internationalen Bestimmungen teilweise aus Wohngebieten heraus operiert und die Zivilbevölkerung damit ebenfalls zusätzlich gefährdet. »Dennoch ist hervorzuheben, dass die ukrainischen Verstöße keinesfalls die wiederholte Bombardierung dieser Wohnviertel durch russische Truppen rechtfertigen«, heißt es in dem Bericht.
Tödliche Angriffe in Charkiw: Amnesty sieht Einsatz von Streumunition durch Russland als erwiesen an - DER SPIEGEL
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