Düsseldorf Der Einsatz ist hoch, der Wille beeindruckend, heißt es beim Autozulieferer Leoni. Direkt nach dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine Ende Februar hatte der Nürnberger Spezialist für Kabelbäume die Produktion in dem osteuropäischen Land gestoppt und seine Beschäftigten in Sicherheit gebracht. Schon wenige Tage später lief die Fertigung aber wieder an.
Leoni steht exemplarisch für eine Vielzahl von deutschen Betrieben. Inzwischen produzieren etwa 60 bis 70 Prozent der Firmen wieder in der Ukraine, schätzt der Ost-Ausschuss. Der Interessenverband fördert den Austausch zwischen Deutschland und 29 Ländern in Mittel- und Osteuropa. Über 100 Tage nach Ausbruch des Krieges wird klar, dass das Geschäft – der Situation entsprechend mit Unterbrechungen – oftmals normaler abläuft als befürchtet, wie Unternehmen und Experten dem Handelsblatt berichten.
Das liegt auch daran, dass die meisten hiesigen Firmen ihre Standorte im Westen der Ukraine haben, die von den Kriegshandlungen nicht so betroffen sind wie die Ostukraine. Insgesamt sind in dem Land mit rund 40 Millionen Einwohnern rund 2000 Unternehmen mit deutscher Beteiligung aktiv, die rund 50.000 Menschen beschäftigen, zeigen Zahlen der Außenhandelskammer.
Es gebe so etwas wie eine neue Normalität, beobachtet Stefan Kägebein. Der Regionaldirektor Osteuropa beim Ost-Ausschuss ist mit deutschen Unternehmen in der Ukraine regelmäßig in Kontakt. „Die Menschen in der Ukraine versuchen, sich irgendwie an die Situation anzupassen, weil sie nicht dauerhaft im Krisenzustand leben wollen.“ Die Arbeit lenke vom Kriegsgeschehen ab. Die ukrainische Bevölkerung wolle „weitermachen und nicht zu Hause herumsitzen“.
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Auch die vom Handelsblatt befragten deutschen Unternehmen sprechen davon, dass die Mitarbeitenden es begrüßen zu arbeiten, wenn sie denn können, heißt es etwa beim Konsumgüterkonzern Henkel und von Leoni.
Ein weiterer Grund für das Anfahren der Produktionen sind ökonomische Zwänge. Gerade die Automobilzulieferer riskieren, Aufträge von den großen Autoherstellern zu verlieren, wenn sie nicht liefern können. „Manche Firmen haben aus wirtschaftlichen Gründen wieder aufmachen müssen“, erklärt Kägebein. Gerade kleinere und mittelgroße Firmen könnten es sich nicht leisten, die Produktion über Monate stillzulegen, denn die Kosten liefen weiter.
Arbeitspause wegen Bombenalarm
Der ukrainischen Wirtschaft tut es gut, dass Produktion und Handel dort laufen, wo es geht. Laut Schätzungen soll das Bruttoinlandsprodukt dieses Jahr zwischen 30 und 50 Prozent zurückgehen.
Beim Persil-Hersteller Henkel gilt, was in der gesamten Ukraine zu beobachten ist: Produktion im Westen, Stillstand im Osten – zwei der vier Werke, die im Westen des Landes liegen, produzieren seit April wieder – die Mitarbeitenden arbeiten auf freiwilliger Basis weiter. Die Fertigungsstätten im Osten sowie die ukrainische Henkel-Zentrale in Kiew bleiben dagegen geschlossen. Der Konsumgüterkonzern beschäftigt 600 Menschen in der Ukraine.
Das Geschäft mag zwar großteils wieder laufen, doch der Arbeitsalltag ist anders als vor Ausbruch des Krieges. Beim Autozulieferer Leoni gehören Luftalarme und das Aufsuchen der Schutzräume zum „traurigen Alltag“. Und hierzulande werden die Mitglieder der Taskforce sehr still, wenn „mitten in einer Videokonferenz mit dem ukrainischen Management plötzlich Fliegeralarm aufheult und die Kolleginnen auf der anderen Seite der Kamera binnen Sekunden ihre Jacken packen, um in die Bunker zu laufen“. Zugleich seien die 7000 ukrainischen Mitarbeitenden, von denen die meisten Frauen sind, entschlossen, sich nicht unterkriegen zu lassen.
Der Handelskonzern Metro hat 22 der 26 Läden geöffnet, die örtlichen Filialleiter beurteilten die Sicherheitslage täglich neu. An die Mitarbeitenden wurden Schutzwesten verteilt. Über den Großmarkt im lange heftig umkämpften Mariupol habe Metro dagegen keinerlei Kontrolle oder Informationen.
Der Hafenkonzern HHLA, der in Odessa am Schwarzen Meer ein Containerterminal sowie Hinterland-Transporte betreibt, hat den Betrieb am Terminal wasserseitig eingestellt, aber eine geringe Anzahl Mitarbeitender hat ein Krisenteam gebildet und wartet die Systeme, während der Großteil der 480 Mitarbeitenden darauf wartet, den operativen Betrieb des Terminals so schnell wie möglich wieder aufzunehmen. Bezahlt werden sie alle, ob sie arbeiten können oder nicht, erklärten alle befragten deutschen Firmen, die in der Ukraine aktiv sind.
Zum Kriegsdienst wurden Mitarbeiter deutscher Unternehmen nur vereinzelt eingezogen. „Es ist nicht so, dass deshalb Personal in kritischer Größenordnung fehlt“, sagt Kägebein. Die Bereitschaft der Bevölkerung mitzukämpfen sei zwar hoch, doch es fehle der ukrainischen Armee an Material. Sie könne deshalb nicht so viel Personal einsetzen.
Öffentlich beklagen viele hiesige Firmen zum Glück nur wenige Todesopfer. Der Handelskonzern Metro geht von mindestens einem Todesopfer aus, ihm fehlen aber darüber hinaus Informationen zu weiteren Mitarbeitenden. Und bei Henkel sind zwei Mitarbeitende ums Leben gekommen.
Lieferketten werden behindert, aber reißen nicht
Unterdessen funktionieren Logistik und Kommunikation in den westlichen Teilen des Landes vergleichsweise gut. Ost-Ausschuss-Experte Kägebein berichtet, dass die „Logistik wegen zerstörter Infrastruktur natürlich eingeschränkt ist, aber es herrscht keineswegs Stillstand und die Firmen können arbeiten“.
Westliche Unternehmen dürfen aus Versicherungsgründen nicht in die Ukraine einfahren. Sie laden ihre Fracht deshalb vor der ukrainischen Grenze aus, ein ukrainischer Kollege lädt dann um. „Das behindert die Lieferkette, aber sie kommt nicht zum Erliegen“, sagt Kägebein. Wegen des immer noch geltenden Kriegsrechts dürfen männliche Ukrainer zwischen 18 und 60 Jahren das Land zwar nicht verlassen, doch für Mitarbeiter der Logistik gibt es Ausnahmen.
>>Lesen Sie hier: „Jetzt besteht eine Chance“: Wie Unternehmer in der Ukraine dem Krieg trotzen.
„Im Großen und Ganzen funktioniert auch die Versorgung mit Gas, Wasser, Strom und Internet in weiten Teilen des Landes“, so Kägebein. Das bestätigt auch Henkel. Eine Herausforderung stellten jedoch der Mangel an Transportmitteln und Benzin sowie die Schäden an der Infrastruktur in einigen Regionen dar, die zu Verzögerungen in der Logistik führten.
Der Handelskonzern Metro urteilt, dass die Logistik durch den Krieg beeinträchtigt und der Aufwand gestiegen sei, aber man schaffe es nach wie vor im Verbund mit den benachbarten Metro-Ländern, die Regale mit dem Wichtigsten zu füllen.
Knauf produziert ab nächster Woche in einem Werk in Kiew wieder
Die meisten deutschen Unternehmen in der Ukraine seien laut Ost-Ausschuss-Experte Kägebein, was die Schäden an den Produktionsstätten und Bürogebäuden angeht, „mit einem blauen Auge“ davongekommen. Für Knauf hingegen stellt sich die Situation ganz anders dar.
Der Gipshersteller hat sein Werk im heftig umkämpften Donbass im Osten des Landes. Bei Kriegsausbruch wurde die Produktion dort eingestellt. Mitte Mai wurden Teile des Werkes von einer russischen Bombe getroffen. Auch in den vergangenen zwei Wochen sei die Fabrik mehrfach von Raketen und Granatwerfern getroffen worden, erklärt Jörg Schanow, Geschäftsleiter Personal und Recht. In unmittelbarer Nähe der Fabrik werde nach wie vor gekämpft.
Auch deshalb könne der Umfang der Schäden an dieser Fabrik bislang nicht ermittelt werden und ob diese Fabrik zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal in Betrieb genommen werden könne, heißt es bei Knauf. Darüber hinaus werde der tägliche Kontakt über die lokale Geschäftsleitung zu allen Mitarbeitenden immer schwieriger, „da mittlerweile ein großer Teil der lokalen Infrastruktur zusammengebrochen ist und viele Mitarbeiter insbesondere aus der Region Donbass mittlerweile in andere Teile des Landes geflohen sind“. Die überwiegende Mehrheit der Knauf-Mitarbeiter sei jedoch weiterhin in der Ukraine und hofft, bald wieder die Arbeit aufnehmen zu können.
Schon in der nächsten Woche werde Knauf die alte Plattenanlage in Kiew wieder anfahren. Diese Anlage sei vor einigen Jahren vom Netz genommen worden, als die größere und modernere Anlage im Donbass in Betrieb gegangen sei. 80 Mitarbeitende aus dem Donbass, die zwischenzeitlich nach Kiew umgesiedelt seien, würden ab nächster Woche wieder Gipsbauplatten herstellen. „Unsere Mitarbeiter sind nach wie vor hochmotiviert. Alle wollen ihren Teil zum Wiederaufbau des Landes beitragen“, sagt Schanow.
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Die Nachfrage nach Baustoffen in der Ukraine sei gerade sehr hoch. Knauf gehe davon aus, dass die Rohstoffversorgung für die Fabrik in Kiew zumindest bis zum Ende des Jahres gesichert sei. Diese Einschätzung könne sich jedoch schnell ändern, wenn die militärischen Auseinandersetzungen wieder auf andere Teile des Landes übergreifen sollten.
Strategieabteilungen beschäftigen sich mit dem Standort Ukraine
Die Hilfsbereitschaft in den Belegschaften und Firmenzentralen bei Henkel und Leoni, Knauf und HHLA, Metro und dem Autozulieferer Prettl sind enorm und ausdauernd. Indessen hat Ost-Ausschuss-Experte Kägebein mit Blick auf die Gesamtheit der deutschen Firmen in der Ukraine herausgefunden, dass „die Strategieabteilungen der Unternehmen sich gerade die Frage stellen, ob sie langfristig in der Ukraine bleiben wollen“. Je länger der Krieg dauere, desto eher prüften die Firmen Alternativstandorte.
Noch ist unklar, wie es weitergeht. Manche Unternehmen aber haben sich bereits festgelegt, das Land beim Wiederaufbau zu unterstützen: So hatte Willi Prettl, Honorarkonsul der Ukraine und Mitgesellschafter der Prettl Gruppe, die in der Ukraine 2000 Mitarbeitende in vier Werken beschäftigt, vor wenigen Wochen im Handelsblatt-Interview gesagt: „Wir sind beim Wiederaufbau der Ukraine dabei.“
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Ukraine-Krieg: Zwischen Normalität und Bunker: Viele deutschen Betriebe in der Ukraine produzieren wieder - Handelsblatt
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