Wie viele Menschen sitzen in Haft, weil sie Geldstrafen nicht bezahlen können? Wie viele sind wegen Fahren ohne Fahrschein hinter Gittern gelandet? Tagesaktuelle und detaillierte Daten zu diesen Fragen zu bekommen, ist schwierig. Denn der Justizvollzug in Deutschland hat ein Datenproblem.
In verschiedenen Bundesländern haben Abgeordnete ihre Landesregierungen und die Bundesregierung gefragt, wie die Praxis der Ersatzfreiheitsstrafen aussieht. Eine solche Strafe im Gefängnis bekommen Personen, die zwar zu Geldstrafen verurteilt wurden, diese aber nicht zahlen können.
Obwohl die Gefängnisse bundesweit umfangreiche Informationen über Inhaftierte erheben, sind die für den Justizvollzug zuständigen Bundesländer offenbar nicht in der Lage, wichtige Details zu Gefangenen zu beantworten. Das geht aus einer Analyse von parlamentarischen Anfragen mithilfe des Tools Dokukratie hervor. Das vom FragDenStaat-Team entwickelte Projekt ermöglicht es, Kleine Anfragen aus Bundes- und Landesparlamenten zentral zu durchsuchen und zusammenzustellen, die Interessierte sonst in 17 verstreuten Systemen suchen müssten.
So etwa zum Thema Fahren ohne Fahrschein. Der Bundesregierung ist bekannt, dass es im Jahr 2020 insgesamt 43.134 Verurteilungen nach § 265a Strafgesetzbuch gab. Dieser Paragraf regelt, dass die Strafe beim „Erschleichen von Leistungen“ mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe belegt ist. Fahren ohne Fahrschein fällt unter diese Regelung, aber auch, wenn sich jemand ohne Eintrittskarte in ein Konzert schleicht oder über die Schranke im Schwimmbad hüpft. Doch wer davon ins Gefängnis musste, ist der Bundesregierung nicht bekannt.
Wichtige Statistiken fehlen
Die Antworten der Bundesländer zeigen, dass es auch ihnen offenbar nicht möglich ist, eine tagesaktuelle Statistik vorzulegen, wie viele Gefangene es wegen bestimmter Delikte gibt. Lediglich zu bestimmten Stichtagen werden diese Daten erhoben. Das Statistische Bundesamt etwa veröffentlicht die Daten in der Strafverfolgungsstatistik. Auch die Dauer der Inhaftierung wegen bestimmter Delikte bei Ersatzfreiheitsstrafen können die meisten Bundesländer nicht vorlegen. Ebensowenig, wie sich Strafen und Inhaftierungen auf die verschiedenen Unterbereiche des Erschleichens von Leistungen aufteilen.
In einer Antwort aus Berlin heißt es, „dass Delikte wegen § 265a StGB faktisch zum ganz überwiegenden Teil das Erschleichen von Leistungen im Zusammenhang mit der Beförderung durch ein Verkehrsmittel“ betreffen. Es ließe sich jedoch nicht ausschließen, dass in der Statistik auch andere Erschleichungsdelikte erfasst seien. Im Jahr 2021 saßen in Berlin 305 Personen mindestens einen Tag hinter Gittern, weil sie wegen Leistungserschleichung verurteilt wurden. Die Dauer der jeweils anfallenden Ersatzfreiheitsstrafen sei im „Aktenverwaltungsprogramm MESTA“ nicht unmittelbar ausgewiesen.
Aus Hamburg heißt es, wenn in MESTA die Straftatbestände eingetragen werden, handele es „sich aber um Textketten, die abschließend aufgrund der Vielzahl der Verfahren und der verschiedenen in Betracht kommenden Strafnormen auch programmtechnisch automatisiert nicht ausgewertet werden können“.
Eine bundesweite, detaillierte Analyse von Ersatzfreiheitsstrafen ist offenbar nur mit großem händischen Aufwand möglich. Das Land Niedersachsen etwa meldet genauso wie Bayern, eine Auswertung der Haftstrafen fürs Fahren ohne Fahrschein nach Höhe der zugrundeliegenden Geldstrafen sei nicht möglich, da „eine händische Auswertung des Aktenbestandes“ insgesamt „nicht darstellbar“ sei. Auch Daten wie die Dauer der Inhaftierung, Kosten der Strafverfolgung oder Daten der Verkehrsbetriebe können die meisten Bundesländer nicht herausgeben.
Dadurch ist es nicht möglich, genau festzustellen, wie viele Personen hinter Gittern sitzen, weil sie kein gültiges Ticket vorlegen konnten. Auch NDR und BR haben dazu recherchiert und Antworten der Länderjustizministerien ausgewertet. Einige der Behörden antworteten, bei einem Großteil der wegen Erschleichen von Leistungen Inhaftierten gehe es um Fahren ohne Fahrschein. Auch hier ergaben sich keine genaueren Zahlen. Doch die wären gerade in der politischen Diskussion um Ersatzfreiheitsstrafen und das Fahren ohne Fahrschein hilfreich.
Kritik an Ersatzfreiheitsstrafen
An der Praxis der Ersatzfreiheitsstrafen, insbesondere wegen des Fahrens ohne Fahrschein, gibt es seit längerem Kritik. Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) sagte gegenüber dem Tagesspiegel: „In Haft sollten vor allem die sitzen, die auch zu einer Freiheitsstrafe verurteilt werden.“ Doch zum Stichtag 2021 war der Anteil der Menschen in bayerischen Haftanstalten, die Ersatzfreiheitsstrafen absitzen, mit 7,42 Prozent besonders hoch. Am niedrigsten lag er in Bremen mit etwa zwei Prozent.
Gegner:innen der Ersatzfreiheitsstrafe führen etwa an, dass die Kosten für die Inhaftierung sehr hoch seien und in keinem Verhältnis zu den verhängten Geldstrafen stehen. Hauptsächlich betroffen von Ersatzfreiheitsstrafen seien bereits benachteiligte Personen, die Armutsdelikte begehen würden, für Resozialisierung und Betreuung fehlten Kapazitäten.
Ebenso kritisch diskutiert wird die Einstufung des Fahrens ohne Fahrschein als Straftat. Die Ampelkoalition hat sich vorgenommen zu prüfen, ob das Delikt zur Ordnungswidrigkeit herabgestuft werden kann. Geldstrafen gäbe es dann zwar weiterhin, doch sie würden wohl geringer ausfallen.
Datenlücke: Wie viele Menschen sitzen wegen Fahren ohne Ticket im Gefängnis? - Netzpolitik.org
Read More
No comments:
Post a Comment