Am 21. Mai 1997 führte Olaf Thon Schalke 04 als Kapitän zum Uefa-Cup-Sieg gegen Inter Mailand. Eine Woche später gewann Martin Kree mit Dortmund im Münchner Olympiastadion gegen Juventus Turin die Champions League. Im Zoom-Call erinnern sie sich an die Zeit vor 25 Jahren.

ZEIT ONLINE: Herr Thon, Herr Kree, obwohl Sie nie zusammengespielt haben, kennen Sie sich bestens. Woher?

Martin Kree: Wir waren Mitte der Achtzigerjahre zusammen bei der Bundeswehr. Drei Monate Grundausbildung in Duisburg-Wedau, dann zwölf Monate Sportfördergruppe in Essen-Kupferdreh. Mit der Bundeswehrnationalmannschaft haben wir ein Jahr kein Spiel verloren. Weißt du noch, Olaf?

Olaf Thon: Klar. Wie hieß nochmal unser Kommandeur?

Kree: Pointinger!

Thon: Stimmt, mit dem durfte man es sich nicht verspaßen. Danach haben sich unsere Wege leider getrennt. Ich war bei Schalke und Bayern, Martin bei Bochum, Leverkusen und Dortmund. Daher hatten wir nicht mehr so viel Kontakt.

ZEIT ONLINE: Wäre eine Freundschaft zwischen einem Schalker und einem Dortmunder überhaupt möglich gewesen?

Thon: Heute ist das auf jeden Fall einfacher. Wir haben uns auf dem Platz aber immer gut verstanden – vielleicht auch, weil wir uns wegen unseren Positionen nicht so oft begegnet sind. Dafür bin ich auch dankbar, Martin hat für seinen linken Fuß ja einen Waffenschein gebraucht. Da ist man besser weggeblieben.

ZEIT ONLINE: Sie haben noch eine biographische Gemeinsamkeit: einen Europapokalsieg. Wie oft werden Sie noch auf den Mai 1997 angesprochen?

Thon: Ständig, durch das Jubiläum nun noch einmal verstärkt.

Kree: Sogar in meinem geschäftlichen Umfeld vergeht eigentlich keine Woche, in der ich nicht auf dieses Spiel angesprochen werde. Mir ist damals schon vor dem Finale durch den Kopf gegangen: Wenn das hier gut ausgeht, bin ich für immer Teil der Vereinsgeschichte. Das werde ich nie wieder los. Und so ist es gekommen.

ZEIT ONLINE: Worüber wollen die Leute mit Ihnen sprechen?

Kree: Oft darüber, wie es ist, den Pokal in den Händen zu halten. Viele Fans erzählen mir auch, dass sie am 28. Mai auch in München waren, wo das Finale stattfand. Dann sieht man das Leuchten in ihren Augen, selbst nach all den Jahren.

"Nach dem 2:0 hat man die Panik in ihren Augen gesehen"

ZEIT ONLINE: Schalke war nach tristen Jahren erst 1991 wieder in die Bundesliga aufgestiegen. Vor der Saison 1996/97 hatte es im Parkstadion 19 Jahre keinen europäischen Fußball gegeben. Was war im Uefa-Cup damals das Ziel?

Thon: Dass wir uns als Dritter für den Uefa-Cup qualifiziert hatten, war schon ein kleines Wunder. Am Anfang wollten wir einfach so weit wie möglich kommen. Wir haben uns durch jede Runde gekämpft.

ZEIT ONLINE: Ihnen wurde vor jeder weiteren Runde das Ausscheiden prognostiziert. Wann war Ihnen klar, dass Sie den Pokal gewinnen könnten?

Thon: Im Halbfinale gegen Teneriffa, das damals von Jupp Heynckes trainiert wurde. Die haben richtig guten Fußball gespielt. Aber wir haben gemerkt: Die sind nicht besser als wir. Wir hatten ein besonderes Team mit vielen Spezialisten: Mit Thomas Linke und Johan de Kock standen wir hinten sehr sicher. Ingo Anderbrügge hatte wie Martin einen sehr harten Schuss, Marc Wilmots und Mike Büskens waren richtige Kämpfer. Jens Lehmann war damals wohl der beste Torwart im Wettbewerb. Und ich habe das Spiel aus der Zentrale geleitet. Das Team funktionierte.

ZEIT ONLINE: Im Finale, das damals noch mit Hin- und Rückspiel ausgetragen wurde, trafen Sie auf das scheinbar übermächtige Inter Mailand. Nach einem späten Treffer von Inters Iván Zamorano und einer torlosen Verlängerung ging es im Rückspiel ins Elfmeterschießen. Erinnern Sie sich noch an die Minuten davor? 

Thon: Es gab eine große Diskussion darüber, auf welches Tor geschossen wird. Der Schiedsrichter war sich unsicher. Später hieß es, er habe eine Münze geworfen. Ich habe als Kapitän nichts davon mitbekommen. Wir haben die Elfmeter dann vor der Inter-Kurve geschossen. Auf eine italienische Wand.

ZEIT ONLINE: Trotzdem verschoss Schalke nicht einen einzigen Elfmeter.

Thon: Unser Türöffner war der erste Elfmeter von Ingo Anderbrügge. Der zappelt wahrscheinlich heute noch im Winkel. Das hat die Spieler von Inter erschreckt und uns stark gemacht. Die restlichen Elfmeter waren danach einfacher – und Jens Lehmann hat natürlich sensationell gehalten.

ZEIT ONLINE: Das Uefa-Cup-Finale fand eine Woche vor dem Finale der Champions League statt. Wie haben Sie, Herr Kree, eigentlich den entscheidenden vierten Elfmeter von Marc Wilmots erlebt?

Kree: Auch, wenn ich mich damit jetzt bei einigen Fans unbeliebt mache: Ich bin ein Kind des Ruhrgebiets. Ich habe Schalke im Finale die Daumen gedrückt. Dass sie gewonnen haben, hat natürlich den Druck auf uns erhöht. Wenn wir unser Finale danach verloren hätten, hätte sich im Ruhrgebiet keiner mehr für uns interessiert.

Thon: Ihr hattet durch unseren Erfolg doppelten Druck.

Kree: Genau! Schalke mit dem Champions-League-Sieg zu übertrumpfen, war vor dem Finale aber auch eine zusätzliche Motivation für einige Spieler.

ZEIT ONLINE: Für Dortmund war der Champions-League-Sieg der Abschluss einer sehr erfolgreichen Episode mit zwei deutschen Meisterschaften. Was hat den BVB unter Ottmar Hitzfeld so stark gemacht?

Kree: Hitzfeld ist ein Stratege. Als gelernter Mathematiker hat er alles bis ins Detail geplant. Die Mannschaft wurde Jahr für Jahr gezielt und sinnvoll ergänzt. Andreas Möller, Jörg Heinrich, Stefan Reuter, Matthias Sammer und Karl-Heinz Riedle, die man aus Italien geholt hat, haben der Mannschaft mit ihrer Erfahrung sehr geholfen. Mit den Erfolgen wuchs auch unser Selbstvertrauen.

Thon: Wie hieß noch mal der Schrank in eurer Innenverteidigung, Martin?

Kree: Júlio César! Absolute Weltklasse, der beste Abwehrspieler, mit dem ich je zusammengespielt habe. Er war noch einen halben Kopf größer als ich, er hat nie einen Zweikampf verloren.

ZEIT ONLINE: Im Finale der Champions League spielte er nicht.

Kree: Mit Matthias Sammer, Jürgen Kohler und mir hatten wir trotzdem eine gute Abwehr. Und mit Stefan Klos einen Torwart, der überragend gehalten hat.

ZEIT ONLINE: Ähnlich wie Schalke spielte auch Dortmund im Finale gegen eine individuell besser besetzte Mannschaft aus Italien, der zu der Zeit stärksten Liga der Welt: Juventus Turin. Dort spielten unter anderem Zinédine Zidane, Didier Deschamps und Christian Vieri. Haben Sie sich vor dem Finale Chancen ausgerechnet?

Kree: Wir waren die Außenseiter. Aber wir wussten, dass wir eine Chance haben, wir hatten immerhin Manchester United rausgeworfen. Defensiv standen wir sehr gut, im Viertel- und Halbfinale hatten wir nur ein Gegentor kassiert. Wir wollten unbedingt die Null halten – und dann schauen, was wir im Angriff zustande bringen würden.

ZEIT ONLINE: Nach 34 Minuten stand es dank eines Doppelpacks von Karl-Heinz Riedle auf einmal 2:0 für Dortmund.

Kree: Nach dem ersten Tor waren die Spieler von Juventus noch relativ ruhig. Nach dem 2:0 hat man die Panik in ihren Augen gesehen. Ich finde übrigens, dass Marcello Lippi, der Trainer von Juventus, einen kapitalen taktischen Fehler gemacht hat.

ZEIT ONLINE: Welchen?

Kree: Er hat mit Alen Bokšić und Christian Vieri zwei große Stürmer gegen uns aufgestellt. Er hätte von Anfang an Alessandro Del Piero bringen müssen, der hat Jürgen Kohler und mir nicht gelegen. Er war einen Kopf kleiner als Kohler und ich, aber extrem wendig. Ein überragender Fußballer.

ZEIT ONLINE: Nach seiner Einwechslung hat er den Anschlusstreffer geschossen.

Kree: Das mag auch Zufall sein. Aber ich glaube, wir hätten defensiv größere Probleme gehabt, wenn Del Piero von Anfang an gespielt hätte.

"Wir wussten, dass viele Leute arbeitslos waren"

ZEIT ONLINE: Der Legende nach ist die Schalker Mannschaft gesammelt zum Dortmunder Finale nach München gefahren. Stimmt das, Herr Thon?

Thon: Wir wurden von RTL gefragt, ob wir den BVB im Olympiastadion unterstützen wollen. 90 Prozent der Mannschaft kam mit und hat dem BVB die Daumen gedrückt.

ZEIT ONLINE: Sie haben sich über den Dortmunder Sieg gefreut?

Thon: Vielleicht gab es in unserer Mannschaft auch Spieler, die eine Dortmunder Niederlage begrüßt hätten, weil wir dann den ganzen Ruhm in diesem Sommer für uns gehabt hätten. Ich war aber keiner davon.

ZEIT ONLINE: Woran erinnern Sie sich 25 Jahre später am liebsten?

Thon: Daran, den Pokal im Mailänder San Siro vor mehr als 25.000 Schalkern hochzureißen. Ich habe nie mehr so viele Männer weinen sehen. Wir sind in derselben Nacht noch zurückgeflogen. Als wir morgens um halb fünf in Deutschland gelandet sind, wurden wir schon von Tausenden Schalke-Fans empfangen. Ich glaube, wir haben nach dem Finale eine Woche gefeiert.

ZEIT ONLINE: Wie war das bei Ihnen, Herr Kree?

Kree: Ich war mit einem riesigen Druck in das Finale gegangen. Als Abwehrspieler hast du immer die Befürchtung, den Fehler zu machen, der uns den Sieg kostet. Darauf wäre ich dann mein ganzes Leben angesprochen worden. Zwei oder drei Minuten vor dem Ende wusste ich: Das hier geht nicht mehr schief. Da hat sich alles in mir gelöst.

ZEIT ONLINE: Wer konnte am besten feiern?

Thon: Andreas Müller, mein damaliger Vizekapitän. Rudi Assauer war auch nicht schüchtern. Natürlich immer mit Zigarre im Mund.

Kree: Schwer zu sagen. Die Feier in München war bei uns leider nicht besonders gut.

ZEIT ONLINE: Warum?                      

Kree: Nach dem offiziellen Part, der zusammen mit unseren Sponsoren in einem Hotel stattgefunden hat, sind wir in ins P1. Das kennst du aus deiner Zeit in München bestimmt auch noch, oder Olaf?

Thon: Sagen wir es so: Ich habe schon mal von dem Laden gehört.

Kree: Weil da nicht so viel Platz war, hat sich die Mannschaft in kleine Gruppen aufgeteilt, wir waren also nicht alle zusammen. Das fand ich sehr schade. Der Lkw-Korso über den Borsigplatz war dafür überragend. Da hat man richtig gemerkt, was es den Fans bedeutet. 

ZEIT ONLINE: Die sportlichen Erfolge fielen in eine für das Ruhrgebiet schwierige Zeit. Der Steinkohlebergbau stand vor dem Aus, Zehntausende Bergarbeiter fürchteten um ihre Jobs. Es gab Demonstrationen, Menschenketten und Streiks. Haben Sie in der Kabine damals darüber gesprochen?

Thon: Wir wussten über die Situation Bescheid. Es gab ja schon in den Achtzigerjahren strukturelle Probleme.

Kree: Natürlich haben wir uns darüber Gedanken gemacht. Wir wussten, dass viele Leute arbeitslos waren. Dass viele Fans zu der Zeit existenzielle Probleme hatten.

ZEIT ONLINE: Hat es Sie angespornt, für diese Fans zu gewinnen, weil sie beide auch im Ruhrgebiet aufgewachsen sind?

Kree: Auf der Tribüne standen Menschen, die ihre Probleme für 90 Minuten vergessen wollten. Wir wollten ihnen etwas geben, über das sie sich freuen können. Etwas, auf das sie stolz sein können.

ZEIT ONLINE: Im Spiegel stand, dass die sportlichen Erfolge "ein lang verschüttetes Ruhrpottgefühl" neu aufleben ließen. Später wurde oft von einer kurzen Verbrüderung der verfeindeten Fanlager gesprochen. Haben Sie das auch so erlebt?

Thon: Das war für die Region ein überragendes Erlebnis. Eine gewisse Verbundenheit meine ich in diesen Wochen schon gespürt zu haben. Es gab eine gegenseitige Anerkennung für beide Mannschaften. Verbrüderung geht denke ich zu weit, die wird es zwischen Schalkern und Dortmundern wohl nicht geben. Wir brauchen diese Rivalität, solange sie nicht unter die Gürtellinie geht.

ZEIT ONLINE: Der FC Bayern war im Uefa-Cup in der ersten Runde ausgeschieden und hatte nur zwei der letzten sieben Meisterschaften geholt. Der Ruhrpott war nach den Erfolgen für einen Sommer das Zentrum des europäischen Fußballs. Hatten Sie das Gefühl, sie waren auf Augenhöhe mit den Bayern?

Kree: Nach den beiden Meisterschaften und dem Champions-League-Sieg dachten wir das. Das war aber nicht so, auch wenn sie damals nicht so weit entfernt vom Rest waren wie heute.

ZEIT ONLINE: Der legendäre Sportreporter Werner Hansch sagte 2011: "So etwas wird es in tausend Jahren nicht mehr geben!" Glauben Sie das auch?

Kree: Ich glaube, das war einzigartig.

Thon: Werner Hansch ist eine Legende. Aber im Fußball kann so viel passieren. Warten wir es ab.