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Wednesday, August 4, 2021

Die fabelhafte Welt der Einhörner - FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung

In Zeiten, in denen die Welt vor großen Veränderungen steht, in denen sie von Pandemien, Dürren und Fluten, von Beben, Wetter- und Klimakatastrophen heimgesucht wird, in denen Kinder als Heilsbringer ausgerufen, Herrschende und Regierende aber zu Versagern abgestempelt werden, haben Fabelwesen schon immer die Menschen bewegt. Sie ließen durch ihre Sagen und Legenden von alters her Feen und Elfen fliegen, Nymphen und Trolle geistern, die Sphinx, den Phoenix und das Einhorn auftreten – und das galoppiert dieser Tage wieder ganz besonders schnell durch viele Fantasien.

Mitten in einer der schwersten Krisen der jüngeren Zeit hat sich die Zahl der Unicorns nun fast verdoppelt. Was einst in Gestalt eines schneeweißen Pferdes mit einem langen dünnen Horn auf der Stirn und außerordentlichen Kräften dahergekommen war, tritt heute in der Form eines Technologie-Unternehmens auf. Das ist in der Regel jung, wachstumsstark und vielversprechend, es hat einen etwas mystisch klingenden Namen wie Theranos, Zynga oder Tuhu, ist in vieler Munde, aber noch nicht an der Börse. Vor allem aber wird ihm von seinen Schöpfern ein Marktwert von mehr als einer Milliarde Dollar zugemessen.

Heute gibt es rund 760 solcher Unternehmen auf der Welt – so viel wie noch nie. Vor der Corona-Krise bestand die Herde der Einhörner nach Angaben von CB Insights aus knapp 400 jungen Firmen. Damals hatten sie einen addierten Wert von insgesamt 1200 Milliarden Dollar; heute wird er mit 2400 Milliarden Dollar beziffert. In den ersten sechs Monaten dieses Jahres flossen nach Angaben von Crunchbase 288 Milliarden Dollar in Tech-Start-ups, fast so viel wie im gesamten vergangenen Jahr. So erblickten zwischen April und Juni 2021 mehr als 130 neue Unicorns das Licht der Welt.

Eine Herde von Einhörnern

Knapp drei Dutzend aller Einhörner sind schon mehr als zehn Milliarden Dollar wert. Sie hatten während der Corona-Krise neue Finanzierungsrunden gedreht, warben weitere Milliarden ein und trieben so ihren Firmenwert in die Höhe. Als vor zehn Jahren noch kaum jemand das Wort „Unicorn“ mit einem jungen Tech-Unternehmen in Verbindung gebracht hatte, hieß es, Deutschland sei Start-up-Entwicklungsland. Heute gibt es auch hierzulande 17 Einhörner. „Mittlerweile sind wir da ganz ordentlich aufgestellt“, sagt Achim Berg, Präsident des Digitalverbandes Bitkom.

Seinen Worten nach mangelt es in Deutschland weder an Know-how noch an guten Ideen und schon gar nicht an Kapital. „Obwohl bei den Rahmenbedingungen noch einiges verbessert werden könnte.“ Er spricht über hinderliche Besteuerungsregeln von Aktienoptionen für Mitarbeiter junger Firmen und von einer oft etwas überengagierten Bürokratie. Mit dem Münchner Analyse- und Softwarehaus Celonis übersprang gerade das erste deutsches Unicorn die Bewertungsmarke von zehn Milliarden Dollar. Das schwedische Fintech Klarna ist mit 45 Milliarden Dollar derzeit Europas wertvollstes Einhorn.

Während Europa auf dem Feld der neuen Technologien seine nationale Vielfalt und wirtschaftliche Kleinteiligkeit pflegt, kommt es auf rund 100 Unicorns. Im autokratischen China mit seinem staatsmonopolistischen Dirigismus sind mittlerweile mehr als 150 Einhörner aktiv. Die Vereinigten Staaten kommen auf 385. Allein in der Bay-Area von San Francisco tummeln sich derzeit rund 100 Unicorns. Kein Wunder, Amerika hat nicht nur das Silicon Valley, sondern auch den dynamischsten Tech-Sektor und die erfahrensten institutionellen Risiko-Investoren der Welt.

Darüber hinaus sind die USA auch die Wiege der Einhörner heutiger Prägung. Denn mit der Risikokapitalgeberin Aileen Lee war es eine Amerikanerin, die ihn in die Tech-Branche eingeführt hatte. In einem Aufsatz im Online-Magazin TechCrunch beschrieb sie im November 2013 das Phänomen, dass es zwar viele erfolgreiche Start-ups, aber nur wenige Jungunternehmen gibt, die schon lange vor ihrem angestrebten Börsengang auf einen Marktwert von mindestens einer Milliarde Dollar kommen. Facebook gehörte einst dazu, Google und Amazon, LinkedIn, Twitter und Tumblr.

Lee nahm mit ihrem Team die amerikanische Start-up-Szene unter die Lupe und fand unter 60.000 jungen Firmen nur 39 Unicorns. Es sei eher unwahrscheinlich, dass man eine Firma mit dem Potential zum Unicorn finde und in sie investiere. Um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, analysierte sie die Lage. Lee stellte fest, dass ein Unicorn vier Dinge braucht. Erstens: schnell wachsende Märkte. Zweitens: Wellen technischer Innovationen. Drittens: erfahrene Gründer mit einer guten Ausbildung. Viertens: Zeit. Denn Unicorns sind keine sprintenden Antilopen, sondern lang laufende Rentiere.

Gewöhnliche Start-ups sind in vier Jahren marktreif, Unicorns werden sieben bis acht Jahre durchgefüttert. So beschrieb Peter Thiel in seinem Buch „Zero to One“, was Mark Zuckerberg 2006 mit dem Angebot des Internetkonzerns Yahoo machte, die erst zwei Jahre zuvor gegründete Facebook Inc. für eine Milliarde Dollar zu kaufen. Thiel, Facebooks erster Investor, hatte den Verkauf zumindest erwogen; Zuckerberg wischte ihn als nicht akzeptabel vom Tisch. Als Facebook 2012 an die Börse ging, bewertete der Markt das Unternehmen mit 106 Milliarden Dollar. Lee nannte es daher ein Super-Unicorn.

3600 Investoren auf der Jagd

Als Investorin und Gründerin des 2012 aus der Taufe gehobenen Risikokapitalgebers „Cowboy Ventures“ spezialisierte Lee sich mit ihrem Team auf die ersten Finanzierungsrunden im Leben eines Start-ups. In diesen Stadien sind die Firmen noch sehr jung und sehr klein. Um zu wachsen, brauchen sie Geld. Das werben sie vor allem in Form von Eigenkapital ein. So bieten sie Investoren in Finanzierungsrunden Anteile an ihren Firmen an – oft als wandelbare Vorzugsaktien, wie Andrew Metrick und Ayako Yasuda in ihrem Buch „Venture Capital and the Finance of Innovation“ schreiben.

Legt ein Investor für einen Aktienanteil von 10 Prozent 100 Millionen Dollar auf den Tisch, wird der Betrag auf sämtliche Anteile hochgerechnet und der Wert des Unternehmens auf eine Milliarde Dollar veranschlagt. Dabei aber sind die speziellen wandelbaren Vorzugsaktien je nach Finanzierungsrunde mit verschiedenen Rechten und Vorzügen versehen. Jens Simon hat dieses Prinzip in seiner Studie „Der Wert von Beteiligungsverträgen“ analysiert. So hat ein Start-up nicht nur mehrere Schichten an Eigenkapital, sondern auch mehrere Klassen an Investoren: jene, die von Anfang an dabei waren; und jene, die durch die zahlreichen Finanzierungsrunden dazukamen.

Das schwedische Fintech Klarna, Europas größtes Unicorn, durchlief laut Crunchbase bislang nicht weniger als 30 Finanzierungsrunden und hat mittlerweile knapp 60 verschiedene Geldgeber. Unter ihnen befindet sich der Rapper Snoop Dogg. Die deutsche Celonis durchlief den Angaben nach bislang vier Runden und hat neun Investoren. Facebook kam einst auf 18 Runden, in denen es Aktien für insgesamt 16 Milliarden Dollar an 27 Investoren ausgab. Der Fahrdienstleister Uber brauchte bis zum Börsengang 31 Runden und 116 Investoren.

Aileen Lee von „Cowboy Ventures“ nannte unternehmerische Senkrechtstarter wie Uber oder Facebook den „Club der Unicorns“. Damit hatte sie 2013 quasi eine neue Investitions-Kategorie aus der Taufe gehoben. An der Wiege dieses Clubs sehen die Analysten von CB Insights alles in allem rund 3600 Investoren stehen, die in der Unicorn-Szene der vergangenen Jahre eine wichtige Rolle gespielt haben. Angesichts der derzeit lockeren Geldpolitik der Notenbanken, der großen Börsengänge und der damit verbundenen massiven Mittelrückflüsse haben viele dieser Investoren volle Kassen. Das lässt sie nach neuen Möglichkeiten suchen.

So sehen sich die professionellen Firmenjäger aus dem Lager der Anleger in Start-up-Zentren wie London, Tel Aviv, Berlin und München um. Sie suchen in aufstrebenden Branchen und Märkten neuartige Lieferdienste und Finanzdienstleister, internetbasierte Bildungs- und Mobilitätsanbieter, Hard- und Softwareausrüster, Datenmanager und Green-Tech-Firmen, die im Rahmen der globalen Klimapolitik völlig neue Indus­trien entstehen lassen sollen. Diese Suche heizt den Wettbewerb unter den Geldgebern an und treibt die Preise für Anteile an vielversprechenden Start-ups weiter nach oben. Das verschafft einigen Start-ups fabelhafte Bewertungen.

Märchen mit einem bösen Ende

Diese Wertansätze aber müssen nicht immer allzu viel mit der Realität zu tun haben. Können sie sich doch wie im Fall der amerikanischen Immobilienfirma WeWork, des Streaming-Dienstes Quibi oder des chinesischen Taxi-Unternehmens Didi rasch jenseits von Gut und Böse bewegen – und damit in die Welt der Sagen und Legenden eintreten. Oder – wie Elizabeth Holmes, Gründerin des Bluttesters und vorübergehenden Unicorns Theranos, einmal sagte: Erst gelte man als verrückt, dann werde man bekämpft, und plötzlich sei alles ganz anders. Eine Welt wie aus dem Märchenbuch. Doch Theranos sollte scheitern.

Holmes wird heute vorgeworfen, den alles in allem 16 institutionellen Investoren von Theranos eine Technik angedreht zu haben, die gar nicht funktioniert. So brachte sie ihre Anleger um die nach Angaben von Crunchbase investierten 1,4 Milliarden Dollar. Dabei hatte Holmes Branchengrößen wie die Fortress Investment Group, Jupiter Partners und Continental Properties angezogen und in den wichtigsten Gremien ihres Hauses einstige Spitzenpolitiker und Topmanager sitzen. Holmes, ehemalige Studentin der Eliteuniversität Stanford, schwieg bislang. Nach einigen Verzögerungen wird sie von Ende August an die Möglichkeit haben, ihre Version der Geschichte vom sagenhaften Aufstieg und Fall ihrer Firma mit dem etwas mythisch klingenden Namen vor einem Gericht erzählen zu können.

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