In den allgemeinen Optimismus am Arbeitsmarkt mischen sich neue Sorgen. Das zeigt das sogenannte Europäische Arbeitsmarktbarometer, ein Frühindikator, der auf Umfragen unter den Arbeitsagenturen in Deutschland und 14 weiteren Ländern beruht. Im Juli sank das Barometer erstmals seit Monaten, und zwar um 0,4 auf 104,8 Punkte. Die Skala reicht von 90 (sehr schlechte Entwicklung) bis 110 (sehr gute Entwicklung).
Der aktuelle Wert liege immer noch deutlich im positiven Bereich, sagt Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Das bedeutet, dass die Befragten damit rechnen, dass sich die Erwerbslosenzahlen und die Beschäftigungsentwicklung verbessern – allerdings nicht mehr so stark wie zuvor, als der Wert immer weiter nach oben kletterte.
Der ungebremste Optimismus hat einen Dämpfer bekommen. Das zeigt: Die Lage ist fragil, und für eine Entwarnung ist es zu früh. „Die Sorge vor den wirtschaftlichen Auswirkungen einer neuen Pandemie-Verschärfung nimmt fast überall zu“, sagt Weber. „Viele merken jetzt: Die vierte Welle ist real.“
In den ersten Ländern würden die Kontaktbeschränkungen wieder verschärft – verbunden mit der Ungewissheit, ob es die Unternehmen und Beschäftigten in Branchen wie der Gastronomie noch einmal ähnlich hart treffen könnte wie auf dem vergangenen Höhepunkt der Corona-Krise.
Würde es so kommen, wäre das langsame, aber stetige Herausarbeiten aus der Krise in Gefahr. In der Bundesrepublik war die Arbeitslosenquote im Juli leicht gesunken auf 5,6 Prozent. Normalerweise steigt die Quote zu dieser Jahreszeit an. Holger Schäfer vom Institut der deutschen Wirtschaft bezeichnete die Aussichten als „durchweg positiv“ und verweist unter anderem darauf, dass Betriebe mehr neue offene Stellen meldeten als im Juli 2019.
Die Chance für Arbeitslose auf einen Job liege ebenfalls fast wieder auf dem Niveau von damals. Der Chef der Bundesagentur für Arbeit (BA), Detlef Scheele, bezeichnete die Entwicklung denn auch als „ausgesprochen erfreulich“.
Ohne Krise wäre die Lage weitaus rosiger
Doch auch er weiß, wie unsicher die Lage ist. Denn angesichts der Ausbreitung der Delta-Variante könnten die Infektionszahlen schon bald wieder stärker steigen. Es könne durchaus noch einmal zu Einschränkungen kommen, sagte Scheele in der vergangenen Woche.
Und er verwies darauf, dass wir noch immer weit entfernt sind von den Werten, die ohne Krise erreichbar gewesen wären. So hätte es in den vergangenen eineinhalb Jahren unter normalen Bedingungen vermutlich einen weiteren Aufbau an Beschäftigung gegeben, etwa um eine halbe Million Arbeitsplätze.
Stattdessen ist die Kurzarbeit noch immer auf außergewöhnlich hohem Niveau. Nach dem Rekordwert von rund sechs Millionen Kurzarbeitern im April 2020 lag sie nach vorläufigen Hochrechnungen der BA zuletzt bei 2,23 Millionen. Aktuellere Befragungsergebnisse zeigen, dass sie weiter stark sinkt.
Zum Vergleich: Auf dem Höhepunkt der Finanzkrise 2008/2009 gab es rund 1,4 Millionen Betroffene. Bei den Minijobs gebe es bislang gar keine Erholung, sagt IAB-Experte Weber. Auch viele Selbstständige hätten es weiterhin schwer, genügend Aufträge zu bekommen.
Der Blick auf die Branchen zeigt, dass das Gastgewerbe immer noch am stärksten hinterherhinkt. Weber verweist aber auch auf die Industrie: Obwohl die Konjunktur sich deutlich erholt habe und die Mehrheit der Unternehmen wieder viele Aufträge bekäme, sei die Beschäftigungsentwicklung noch immer im negativen Bereich.
„Das Problem ist, dass die Industrie schon mit einem Negativtrend in die Corona-Krise hineingegangen ist“, sagt Weber. Tatsächlich steckte sie schon seit Ende 2018 in der Rezession. Viele Bereiche sind von der Transformation betroffen: Die Autobauer und ihre Zulieferer zum Beispiel müssen die Wende vom Verbrennungsmotor zum Elektroantrieb schaffen.
„Viele sind deshalb bei Neueinstellungen zurückhaltend“, sagt Weber. „Alle wissen, dass die Elektromobilität zunächst viele Jobs kosten kann.“ Deshalb werde auch ein Ende der Pandemie die Herausforderung nicht beseitigen. „In der Industrie wird es so schnell keine Normalisierung der Beschäftigung auf das frühere Niveau geben“, sagt Weber.
Ein Beispiel, das die Auswirkungen der enormen Umbrüche zeigt, ist der Stuttgarter Autobauer Daimler. Chef Ola Källenius hatte in der WELT AM SONNTAG kürzlich gesagt, dass man ehrlich mit den Menschen sein müsse. Die Montage eines Verbrennungsmotors bringe mehr Arbeit mit sich als der Bau einer Elektroachse. „Selbst, wenn wir den kompletten elektrischen Antriebsstrang selbst bauen würden, werden wir Ende der Dekade weniger Menschen beschäftigen“, sagte er.
Überbrückungshilfen werden fortgesetzt
Für die akute Pandemie-Gefahr hingegen ist vorgesorgt. Sowohl Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) als auch Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) haben bereits zugesichert, die Corona-Hilfen verlängern zu wollen. „Niemand soll kurz vor der Rettung ins Straucheln geraten“, hatte Scholz den Zeitungen der „Funke-Mediengruppe“ gesagt.
Hilfen wie die Kurzarbeiter-Regelung und auch die Wirtschaftshilfen seien bis zum 30. September befristet. „Ich will beides bis zum Jahresende verlängern. Möglicherweise müssen wir auch im nächsten Jahr dem einen oder anderen Unternehmen helfen.“
Die Bundesregierung hat bereits entschieden, dass die bisher bis Ende Juni befristete Überbrückungshilfe III als „Überbrückungshilfe III Plus“ bis September fortgeführt wird. Neu ist eine „Restart-Prämie“, mit der Unternehmen einen höheren Zuschuss zu Personalkosten erhalten können – falls sie etwa Personal aus der Kurzarbeit zurückholen oder neu einstellen. Die Überbrückungshilfe ist das zentrale Kriseninstrument der Regierung, um Folgen der Pandemie auf Jobs und Firmen abzufedern.
Um die Kosten einer Ausweitung der Kurzarbeit zu stemmen, reichen die Mittel der BA längst nicht mehr aus. Der Bund unterstützte die Finanzierung bereits. IAB-Forscher Weber sieht darin kein Problem. „Der Bund muss das bezahlen, und er kann das auch. Die Schuldenstände sind zwar hoch, aber die Tragfähigkeit steht in dieser Krise nicht in Frage.“
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Arbeitsmarkt: „Viele merken jetzt – die vierte Welle ist real“ - WELT
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