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Wohl selten war eine Mordbeteiligte so populär: Als Gypsy Rose Blanchard Ende Dezember aus dem Gefängnis entlassen wurde, war die 32-Jährige vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben wirklich in Freiheit. Jahrelang hatte die junge Frau unter Missbrauchstaten ihrer Mutter gelitten, ihr Schicksal berührte Menschen in der ganzen Welt – so sehr, dass sie jetzt ein Star ist: 8,1 Millionen Follower bei Instagram, ein simples Selfie erhält Millionen von Likes aus dem Nichts. Wie kommt das?
Was ist passiert?
Zunächst sieht alles nach einem gewöhnlichen Mordfall aus: Dee Dee Blanchard wird im Juni 2015 tot aufgefunden, erstochen mit einem Messer – im Haussafe fehlen 4000 Dollar. Von ihrer vermeintlich schwer kranken Tochter Gypsy Rose fehlt derweil jede Spur. Also wird eine Vermisstenmeldung herausgegeben – nach einem Mädchen im Rollstuhl.
Schnell stellt sich heraus: Die Tochter hat offensichtlich etwas mit dem Verbrechen zu tun. »Das Miststück ist tot«, schreibt Gypsy Rose Blanchard auf Facebook. Schnell wird sie ausfindig gemacht – und es wird klar: Sie ist gar nicht krank. Der Muskelschwund? Ausgedacht. Der Rollstuhl? Den gibt es, laufen kann sie trotzdem. Die Sauerstoffversorgung? Unnötig. Alles erfunden von der Mutter, die offenbar das sogenannte Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom hatte .
Gypsy Rose Blanchard hat ihre Mutter töten lassen. Ausgeführt hat die Tat ihr damaliger Freund, der seinerzeit 26 Jahre alte Nicholas Godejohn. In separaten Prozessen werden beide verurteilt. Gypsy Rose Blanchard bekennt sich 2016 im Rahmen eines Deals mit der Staatsanwaltschaft schuldig, mit Godejohn ihre Mutter getötet zu haben. Nach den Strafgesetzen des US-Bundesstaats Missouri erhält sie wegen Mordes zweiten Grades eine Freiheitsstrafe von zehn Jahren, von denen sie rund acht absitzt. Zu dem Delikt gibt es im deutschen Strafrecht keine exakte Entsprechung. Godejohn wird 2019 zu lebenslanger Haft ohne Aussicht auf Bewährung verurteilt.
Was ist das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom?
Es ist eine seltene Form des Missbrauchs: Wenn ein Mensch eine Krankheit bei einem Schutzbefohlenem herbeiführt oder erfindet, um für sich selbst Aufmerksamkeit und Mitgefühl zu bekommen, sprechen Wissenschaftler vom sogenannten Münchhausen-by-Proxy-Syndrom (»proxy« bedeutet Stellverteter). Begangen werden die Taten fast immer von Frauen, in neun von zehn Fällen sind es die Mütter der Kinder.
Ob Dee Dee Blanchard dieses Störungsbild tatsächlich aufwies, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen – sie ist tot und wurde zuvor nie darauf untersucht. Es spricht jedoch vieles dafür, denn im Laufe der Ermittlungen wird klar, was die Mutter ihrer Tochter alles angetan hat: Mithilfe von Medikamenten hielt sie Gypsy Rose künstlich krank, sodass dieser etwa die Zähne ausfielen. Ein rasierter Schädel sollte den Eindruck erwecken, die Tochter leide an Leukämie, mit der Behauptung, sie habe Muskelschwund, band Dee Dee diese an den Rollstuhl. Als die Mutter Ärzten sagte, Gypsy Rose könne nicht mehr essen, erhielt diese eine Magensonde.
All das sind nur Beispiele. Die Liste an angedichteten Krankheiten ist lang – im Haus der Getöteten finden die Ermittler einen Schrank, randvoll mit Medikamenten , die es nie benötigt hätte.
Wann und wie wurde Gypsy Rose Blanchard so populär?
Gypsy Rose Blanchards Fall ist so ungewöhnlich und extrem, dass schnell zahlreiche Medien darauf aufmerksam werden. Mehrere Dokumentationen werden gedreht, ebenso ein von den Geschehnissen inspirierter Thriller. Insbesondere die achtteilige Fernsehserie »The Act« erreicht große Bekanntheit, Patricia Arquette spielt darin die Mutter, während die Tochter von Joey King dargestellt wird.
Die Präsenz nutzt sie: Gypsy Rose Blanchard gibt Interviews, auch ein Fernsehpsychologe wird einmal ins Gefängnis zu ihr geschaltet. Ihre Bekanntheit wächst und wächst – und ihre Beliebtheit auch. Nach ihrer Freilassung wird sie sagen, sie habe in ihrer Zeit im Gefängnis Briefe von mehr als 250 Männern erhalten – darunter ist auch ihr heutiger Ehemann Ryan Anderson . Mit der Zeit nimmt Gypsy Rose Blanchard die Dinge immer mehr selbst in die Hand. Ihre Meinung zu »The Act« sagt sie beispielsweise deutlich : Dass sie in die Produktion nicht involviert gewesen sei, empfinde sie als »sehr unfair«.
Spätestens seit sie wieder in Freiheit ist, bestimmt sie die Geschichte. Ihr TikTok-Account , erst Mitte November angelegt, hat mittlerweile mehr als neun Millionen Follower, in ihren Social-Media-Steckbriefen bezeichnet sie sich als »Person des öffentlichen Lebens, Rednerin und Autorin, die sich für die Bekanntheit des Münchhausen-Stellvertreter-Syndroms einsetzt«. Und sie erzählt ihre Geschichte jetzt selbst: im Buch »Released«, das diese Woche in den USA herauskam.
Was macht den Fall so einzigartig?
Kein Zweifel, die Lebensgeschichte von Gypsy Rose Blanchard ist dramatisch. Allein das, was sie erdulden musste, und ihr Entschluss zur Tötung der Mutter fasziniert viele Menschen.
Trotzdem ist das bei Weitem nicht alles. Denn eigentlich hatte das Schicksal für Gypsy Rose Blanchard die Rolle eines lebenslangen Opfers vorgesehen; dominiert von der Mutter, ohne realistische Chance, den Verhältnissen zu entkommen. Doch sie schafft es – und nicht nur das: Sie wird zum handelnden Subjekt. Alle Aufmerksamkeit ist auf sie und ihre Projekte gerichtet.
Und nun stelle man sich vor, ein Mensch fühlt sich ohnmächtig und nicht des eigenen Lebens Herr: Wie viel Mut und Inspiration mag ihm diese Geschichte einer kompletten Selbstermächtigung geben?
Ironie der Geschichte: Begonnen hat alles – mit einem Mord.
Was sagt Gypsy Rose Blanchett selbst über ihre Situation?
Es ist wie im Märchen: Die einst Verlorene erkundet ihre neue Rolle neugierig und füllt sie immer selbstbewusster aus. Längst spricht sie nicht mehr als Opfer oder Täterin, sondern als junge Frau, die sich im Leben ausprobiert. Zu Silvester posierte sie beispielsweise für ein Selfie auf Instagram in einem NFL-Trikot, 3,6 Millionen Menschen gefiel dieses Foto bisher. »Ich habe Spaß mit den Selfies und den Snapchats und all diesen Dingen«, zitiert sie die »Cosmopolitan «.
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Und Gypsy Rose Blanchard ist darauf bedacht, die Kontrolle über ihre Geschichtsschreibung zu behalten. Sollte es je wieder einen Film über ihr Leben geben, wisse sie schon, wer die Hauptrolle spielen solle, sagte sie vor Kurzem: Millie Bobby Brown, bitte .
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