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Wednesday, August 23, 2023

Überbevölkerung: Acht Milliarden – sind wir bald zu viele Menschen auf der Erde? - DER SPIEGEL

Am 14. April dieses Jahres, an einem unbekannten Ort, irgendwo in Indien, muss er oder sie geboren sein. Der 1.425.775.850. Mensch. Der oder die eine, mit dem das Land noch vor China zum bevölkerungsreichsten der Welt wurde. Zumindest rechnerisch.

Wann und wie Indien das Nachbarland überholt hat, weiß in Wirklichkeit niemand ganz genau. Die Uno hat dieses Datum errechnet. Und Rechnungen sind wichtig, wenn es um Bevölkerungswachstum geht.

1,4 Milliarden Inderinnen und Inder – das sind mehr als dreimal so viele Menschen, wie in der EU leben, mehr als alle Einwohner Nord- und Südamerikas zusammen. Fast jede fünfte Person auf dem Planeten. Und Indien ist ja nicht das einzige Land, das weiterwächst. Weltweit gibt es heute mehr als acht Milliarden Menschen. Alle zwei Sekunden kommt ein neuer hinzu.

In Niger liegt die durchschnittliche Geburtenrate heute bei 6,75 Kindern, in vielen anderen Staaten südlich der Sahara, wie etwa Nigeria und Somalia bei vier bis fünf.

Neugeborenes Kind im Kreis der Familie in Patiala, Indien: einer von acht Milliarden Menschen

Neugeborenes Kind im Kreis der Familie in Patiala, Indien: einer von acht Milliarden Menschen

Foto: Elke Scholiers / Getty Images

Immer wieder kommt deshalb eine Frage  auf, die natürlich nicht ganz neu ist: »Gibt es zu viele Menschen?«

Es geht weniger um den Andrang an Stränden oder überfüllte Züge. Zu viele – das meint vor allem, dass es zu viel sein könnte, um die heutigen Probleme der Menschheit noch irgendwie zu bewältigen: Hunger, Armut, Klimawandel, Umweltzerstörung.

»Überbevölkerung« ist ein Schlagwort, das dann gern verwendet wird. Doch um besser zu verstehen, wer die Probleme der Gegenwart zu verantworten hat, lohnt sich ein genauerer Blick.

Die »doppelte Überbevölkerung«

Der Bevölkerungsforscher Reiner Klingholz hat sich jahrelang mit diesen Themen beschäftigt, bis 2019 war er Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. Er spricht von der »doppelten Überbevölkerung«: Der eine Teil der Menschheit entnimmt dem Planeten mehr Ressourcen, als dauerhaft verfügbar sind und hinterlässt mehr Müll, als die natürlichen Systeme aufnehmen können. Im anderen Teil werden mehr Menschen geboren, als angemessen versorgt werden können. Nach seinen Reisen und Recherchen hat er ein Buch geschrieben, in dem er beide Entwicklungen verknüpft.

Wie hängen sie zusammen? Ein Blick auf die historischen Emissionen zeigt zumindest, wer die Erde bis in die Gegenwart am meisten beansprucht hat. Die Unterschiede zwischen verschiedenen Weltregionen sind bereits auf den ersten Blick eklatant.

Die Menschen in Indien oder Niger haben historisch recht wenig getan, um den Klimawandel in Gang zu bringen. Um nicht zu sagen: verglichen mit uns fast nichts. Dennoch führen hohe Geburtenraten zu massiven Problemen – vor allem in den Ländern selbst. Die große Zahl an jungen Menschen überfordert in vielen Ländern das Bildungssystem, erschwert die Arbeitsplatzsuche und verschärft soziale Probleme.

Es braucht vier Dinge, um die Geburtenrate zu senken

Für viele Menschen auf der Erde sei westliche Familienplanung jedoch auch im Jahr 2023 keine Option, sagen Forscher. Dort, wo Staaten fragil seien und Sozialsysteme unzuverlässig oder nicht vorhanden, erschienen Kinder oft wie eine Absicherung.

Vier Faktoren seien notwendig, um die Geburtenrate zu senken, sagt Reiner Klingholz: Gesundheit, Bildung, Jobs – und Frauenrechte.

In Südostasien habe man in den vergangenen 50 Jahren sehen können, was passiere, wenn die sozioökonomische Entwicklung in die Gänge komme: Die Zahl der Geburten geht deutlich zurück. Auch in Europa sei es einst nicht anders gewesen.

Fitnesskurs für schwangere Frauen in Shijiazhuang, China

Fitnesskurs für schwangere Frauen in Shijiazhuang, China

Foto: Liang Zidong / Visual China Group / Getty Images

In Sub-Sahara-Afrika sei es jedoch schwierig, viele Länder instabil. »Aber den Trend sehen wir dort ebenfalls.« Denn auch, wenn die Geburtenraten sehr hoch sind: Inzwischen sinken sie auch in diesen Ländern, wenn auch langsamer als zuvor in Asien.

Der Westen schrumpft – und verbraucht doch zu viel

Das ist die eine Seite. Die andere ist, dass wir, die Menschheit, eindeutig zu viel verbrauchen. Schaut man sich an, wie Wohlstand und Ressourcenbeanspruchung sich entwickeln, gibt es unabhängig von Einwohnerzahl und Kontinent schnell einen Trend: Wer mehr hat, verbraucht mehr. Auch ganz ohne Bevölkerungswachstum.

Was aber passiert, wenn die Länder südlich der Sahara oder beispielsweise Indien bald aufholen? Befeuern Nord- und Südhalbkugel dann gemeinsam Klimawandel und Umweltzerstörung?

In gewisser Hinsicht sei das tatsächlich kaum zu vermeiden, sagt Forscher Klingholz. In Indien, dem nun bevölkerungsreichsten Land unserer Erde, lasse sich die Entwicklung derzeit wie im Lehrbuch verfolgen: Erst kauften die Menschen Motorräder, dann kamen irgendwann Autos dazu.

Das sei nicht viel anders als in der Nachkriegszeit in Europa oder Japan. In China seien die Pro-Kopf-Emissionen heute schon höher als teilweise in Europa. Es gibt aber noch einen anderen Indikator für steigenden Ressourcenverbrauch: Fleisch.

Der Konsum tierischer Lebensmittel im Überfluss ist ein Phänomen des 20. Jahrhunderts. Selbst dort, wo früher kaum Fleisch gegessen wurde, etwa in Südkorea oder Japan, wurde es in der Nachkriegszeit populär. Ein Statussymbol – mit neuen Folgen für die Gesellschaft. Das Darmkrebsrisiko, früher kaum ein Problem, hat sich etwa innerhalb weniger Jahre massiv erhöht. Während das Bevölkerungswachstum zurückging, nahmen Ressourcenverbrauch und Wohlstandserkrankungen zu.

Markt in Abuja, Nigeria: Was, wenn andere Länder bald so leben wie wir?

Markt in Abuja, Nigeria: Was, wenn andere Länder bald so leben wie wir?

Foto: KC Nwakalor / Bloomberg / Getty Images

In den afrikanischen Ländern mit hohen Geburtenraten ist der Fleischkonsum bis heute weit von dem entfernt, was westliche Länder auf den Tisch bringen.

Auch in Indien ist es so. Das Land ist die einzige vegetarische Weltmacht, wenn man so will. Die Frage ist nur: wie lange noch?

Wenn sich die Menschen in den heute armen Ländern in der Zukunft so ernähren wollten, wie jene in den reichen, sei das aus Umweltsicht natürlich ein Problem, sagt Reiner Klingholz. Gleichzeitig könne man es dem Globalen Süden kaum absprechen, einen ähnlichen Lebensstandard wie den unsrigen anzustreben.

Wachstum in Afrika: statt Festnetztelefon gleich Smartphone

Wachstum in Afrika: statt Festnetztelefon gleich Smartphone

Foto: Benson Ibeabuchi / Bloomberg / Getty Images

Außerdem seien Bildung und wachsender Wohlstand eben nicht nur ein Antrieb für neue Probleme, sondern auch die Voraussetzung für neue Lösungen. In manchen Bereichen, sagt Klingholz, sei es zudem möglich, dass die aufholenden Staaten es direkt besser machen könnten als wir. »Leapfrogging« nennen Experten das, wenn bestimmte Entwicklungsschritte gezielt übersprungen werden: Beim Ausbau des Telefonnetzes oder beim Aufkommen des Computers hatten viele afrikanische Länder jahrzehntelang kaum die Möglichkeiten der Europäer. Mit Handys aber überholten sie dann oft den Westen. Bargeldloses Bezahlen, mobile Kommunikation, völlig neue Geschäftsmodelle – all das habe sich südlich der Sahara teilweise schneller verbreitet als bei uns.

Wie lange wächst die Menschheit noch?

Wie sich die Bevölkerung der Welt weiterentwickelt, lässt sich gut einschätzen, durchrechnen und vergleichen. Es geht um viele Zahlen, die uns helfen können, die Zukunft unseres Planeten besser zu verstehen. Die Uno hat mehrere Projektionen erstellt, die durchspielen, wie sich die Weltbevölkerung bis zum Ende des Jahrhunderts entwickelt.

Ein Szenario fällt dabei besonders auf: Noch in diesem Jahrhundert könnte die Weltbevölkerung stagnieren – oder auch niedriger sein, als sie heute ist.

China hat erst in der vergangenen Woche die niedrigste Geburtenrate der Geschichte vermeldet. 1,09 Kinder bekommt dort durchschnittlich jede Frau jetzt.

Klingholz überrascht das nicht. Das Land habe jahrzehntelang seine demografischen Informationen wie einen Schatz gehütet – und die Weltöffentlichkeit angelogen. In den Behörden, die für die Umsetzung der Ein-Kind-Politik zuständig waren, sagt er, hätten so viele Beamte gearbeitet wie in kaum einem anderen Bereich. Dementsprechend gering sei das Interesse gewesen, eine bereits gesunkene Geburtenrate zu kommunizieren, schließlich lebte man davon, sie erst noch senken zu müssen.

Kleiner Junge auf dem Roller mit seiner Mutter in Peking: Noch in diesem Jahrhundert könnte die Weltbevölkerung niedriger sein, als sie heute ist

Kleiner Junge auf dem Roller mit seiner Mutter in Peking: Noch in diesem Jahrhundert könnte die Weltbevölkerung niedriger sein, als sie heute ist

Foto: Kevin Frayer / Getty Images

Jahrzehntelang hatte China zuvor vom Bevölkerungswachstum profitiert. Es gab immer mehr arbeitsfähige Menschen, wenige Alte. Nun aber steht das Land vor einem Problem: Die Bevölkerung wird älter, niemand rückt nach. Einwanderung ist wie in vielen asiatischen Ländern ein Tabu. »Die Probleme werden bald gigantisch sein, so schnell kann sich eine Gesellschaft gar nicht verändern«, so Klingholz.

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    Es könnte eine Warnung sein. Weltweit, sagen Forscher, gibt es bislang kein Land, in dem die Geburtenrate erst einmal unter 2,1 Kinder gesunken ist und dann wieder darüber hinaus anstieg. Kein einziges.

    Pendler beim Umstieg in einem Bahnhof in Mumbai, Indien

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    Foto: Sankhadeep Banerjee / NurPhoto / Getty Images

    Auch in Europa dürfte der Bevölkerungsrückgang schon bald zu neuen Problemen führen. Am Klimawandel ändert das jedoch nichts – der Westen verbraucht so viele Ressourcen, dass die geringere Geburtenrate kaum ins Gewicht fällt.

    Gäbe es eine bessere Lösung? »Suffizienz«, sagt Klingholz. Das klingt eleganter als Verzicht. Aber meint genau das.

    Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

    Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

    Eine ausführliche FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.

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