Der Hamburger Apotheker Lutz Schehrer betreibt Krisenmanagement – und das seit Wochen.
Lutz Schehrer, Apotheker:
»So, hier haben wir einen Teil unserer Waren. Ein Großteil ist im Kommissionierer, aber hier bei den Fächern ist auch einiges leer, weil Lieferschwierigkeiten da sind. Man möchte gerne die Patienten beliefern, aber das geht nicht immer.«
In deutschen Apotheken fehlen zurzeit unter anderem Blutdrucksenker, Brustkrebsmedikamente, Antibiotika, Fiebersäfte für Kinder, aber auch Antidepressiva, Schmerzmittel oder Hustenmittel.
Lutz Schehrer, Apotheker:
»Was haben wir denn an Penicillin da? Alles genullt. Dann versuche ich eine Verfügbarkeit von den Sachen zu bekommen und dann ist es entsprechend alles nicht verfügbar.«
Der Apotheker und seine 10 Angestellten müssen Kunden im Minutentakt mitteilen, dass es die von ihrem Arzt verschriebenen Medikamente gerade nicht gibt.
Apothekerin:
»Ich muss tatsächlich schauen, was ich bestellen kann. Im Moment ist es so, dass es nicht zu bekommen ist, nicht lieferbar ist. Ich gucke jetzt mal, ob ich ihr eine andere Dosierung geben kann.«
Lutz Schehrer, Apotheker:
»Die Kollegin hat das jetzt nachgeschaut. Überall sind die roten Pfeile bei einem Präparat.«
In diesem Fall fehlt ein Cholesterinmittel.
Lutz Schehrer, Apotheker:
»Man bekommt ja ein Medikament nicht ohne Grund, sondern weil der Arzt die Notwendigkeit sieht, dass eine Erkrankung vorliegt. Wenn eine Hypercholesterinämie, dann muss die auch bekämpft werden. Sonst kann es auch gefährlich werden. Natürlich.«
Wie kommt es, dass in Deutschland notwendige Medikamente knapp werden? Ein Grund:
Die Wirkstoffe werden dort gekauft, wo sie am billigsten sind. Vor allem in China werden die Vorprodukte produziert. Durch die Corona-Lockdowns ist die Herstellung ins Stocken geraten. Genauso wie in Indien. Hier findet die Produktion der Medikamente statt. Die Verpackungen für die Tabletten kommen überwiegend aus Osteuropa, hier beeinflusst der Ukrainekrieg die Produktion. Hinzu kommt, dass es in den vergangenen Monaten zu einem Papiermangel gekommen ist. Dadurch können nicht ausreichend Beipackzettel in deutscher Sprache gedruckt werden.
Es ist ein fragiles Lieferkettensystem, das ins Stocken geraten ist. Im Hinterzimmer von Schehrers Apotheke sind zwei Mitarbeiterinnen etliche Stunden am Tag damit beschäftigt, irgendwo die fehlenden Arzneien aufzutreiben. Heute fehlen der Apotheke 178 gängige Medikamente, vor allem Antibiotika sind Mangelware.
Lutz Schehrer, Apotheker:
»Wie sieht’s jetzt aus mit dem Amoxicillin, mit der Lieferfähigkeit?«
Apotheken-Angestellte:
»Noch nicht so besonders. Ich habe es heute noch mal durchlaufen lassen. Nicht gut.«
Lutz Schehrer, Apotheker:
»Amoxicillin gar nicht?«
Apotheken-Angestellte:
»Nein, zumindest nicht in den Kinderstärken, 500 oder so.«
Lutz Schehrer, Apotheker:
»Und Amoxi-Clavulan?«
Apotheken-Angestellte:
»Da habe ich zwei bekommen.«
»Okay, immerhin. Ja, das ist schon mal was. Ja, okay, Prima. Danke.«
»Und Sie sind jetzt froh über zwei Packungen?«
Apotheken-Angestellte:
»Das ist schon so wie ein Sechser im Lotto für uns. Ich muss ganz ehrlich sagen, es ist wirklich frustrierend. Es ist wirklich frustrierend, wenn man sieht, was man eigentlich sonst immer an Ware hat und was man auch liefern kann. Und wenn die Patienten dann anrufen und man nachher im Nachhinein immer sagen muss, tut mir leid, tut mir leid.«
Ein weiterer Grund für die Misere: Die Inflation und die gestiegenen Energiekosten. Seit Jahren werden in Deutschland patentfreie Medikamente wie etwa Fiebersäfte mit einem Festbetrag abgerechnet, ohne dass es zu einer Anpassung gekommen ist. So ist der Preis für Paracetamol laut Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte innerhalb eines Jahres um 70 Prozent gestiegen, aber der Festpreis, den der Hersteller von den Krankenkassen pro Flasche Fiebersaft erhält, ist gleichgeblieben. Der Markt hat darauf reagiert: Von ehemals elf Herstellern in Deutschland sind nur noch zwei übrig. Bei anderen Medikamenten haben Hersteller die Produktion ganz eingestellt.
Lutz Schehrer, Apotheker:
»Es wurde mal ganz früher, zu Zeiten meines Vaters gesagt, Deutschland ist die Apotheke der Welt. Die Zeiten sind deutlich vorbei, weil die pharmazeutische Industrie nicht mehr bestrebt ist, in Deutschland herzustellen. Weil die Preise der gesetzlichen Krankenkassen so niedrig sind, dass es sich nicht mehr lohnt, in Deutschland zu produzieren.«
Mehrere Bundesländer haben bereits die Einfuhrregeln für Arzneimittel gelockert. Grundlage dafür ist ein vom Gesundheitsministerium offiziell festgestellter Versorgungsmangel. Mit der Bekanntmachung wird es Landesbehörden ermöglicht, flexibler auf Lieferengpässe zu reagieren. So hat die bayerische Staatsregierung vorübergehend erlaubt, dass sogar nicht in Deutschland zugelassene Arzneimittel eingeführt werden dürfen.
Können Apotheken ein Medikament nicht besorgen, bleibt nur der Anruf beim Arzt.
Lutz Schehrer, Apotheker:
»Das ist im Moment nicht zu bekommen.«
Apotheken-Mitarbeiterin:
»Es gibt auch keine Alternative.«
Lutz Schehrer, Apotheker:
«In dieser Zusammensetzung, es sind drei Substanzen, die in einem Arzneimittel sind, das gibt es von keiner anderen Firma. Deshalb müssen wir jetzt mit dem Arzt sprechen, ob er irgendwelche anderen Ideen hat, mit denen er ihre Erkrankung entsprechend behandeln kann. Wir nehmen ihre Telefonnummer auf und dann rufen wir Sie gerne an.«
Apotheken, Patienten und Arztpraxen müssen flexibel bleiben. Experten rechnen nicht damit, dass sich die Lage so schnell wieder normalisiert.
Antibiotika, Fiebersäfte, Krebsmedikamente: Warum fehlen so viele Medikamente in Deutschland? - DER SPIEGEL
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