Es ist das größte und trübste Thema rund um die Fußball-WM in Katar: Die Lage der Gastarbeiter. Ob der Druck der Öffentlichkeit Verbesserungen gebracht hat, wie Reformen gelebt werden und wie viele Arbeiter wirklich ums Leben gekommen sein könnten, erklärt Ellen Wesemüller von Amnesty International.

ZEIT ONLINE: Frau Wesemüller, werden Sie die WM-Spiele schauen?

Ellen Wesemüller: Ja, das werde ich, und ich freue mich sogar darauf. Ich bin Fußballfan und sehe gerne guten Fußball. Das deckt sich ganz gut mit dem, was wir bei Amnesty sagen: Fußball ja, Ausbeutung nein. Man kann das eine tun, ohne das andere zu lassen, nämlich die Missstände in Katar zu kritisieren.

ZEIT ONLINE: Warum kein Boykott?

Wesemüller: Ich kann sehr gut nachvollziehen, wenn Fans für sich entscheiden, nicht einschalten zu wollen. Und ich finde auch die Proteste gut. Für uns aber sind Boykotte nicht Teil des politischen Instrumentenkastens. Wir gehen andere Wege, um Veränderungen voranzubringen.

ZEIT ONLINE: Es kursieren sehr viele unterschiedliche Zahlen, wie viele Gastarbeiter seit 2010 in Katar starben: 15.000, 6.500, drei. Welche kommt der Wahrheit am nächsten?

Wesemüller: Da geht wirklich viel durcheinander. Die Zahl 15.021 wird oft in Zusammenhang mit Amnesty gebracht, tatsächlich erwähnen wir sie in einem unserer Berichte. Wir haben diese Zahl damals aber nicht selbst erhoben, sondern uns auf die katarische Statistikbehörde berufen, die diese Zahl herausgegeben hat. Die Zahl gibt wieder, wie viele ausländische Bürger zwischen 2010 und 2019 in Katar gestorben sind. Das sind nicht die Toten der WM, sondern alle ausländischen Toten in Katar in diesen zehn Jahren. Wie genau und warum diese Menschen gestorben sind, lässt sich daraus nicht ablesen. Die Todesursachen dieser Menschen wurden nicht ordentlich untersucht, die Todesumstände schlecht kategorisiert. Das kritisieren wir. So können wir nur auf Fallbeispiele schauen und da wird deutlich, dass es sich bei den Toten sehr oft um junge und gesunde Männer handelt, was darauf hinweist, dass ihre Tode etwas mit den Arbeitsbedingungen zu tun haben könnten.

ZEIT ONLINE: Der Guardian schrieb von 6.500 Toten.

Wesemüller: Der Guardian hatte schon vor unserem Bericht bei einigen – nicht allen! - Entsendeländern nachgefragt, wie viele ihrer Staatsbürger seit 2010 in Katar gestorben sind. Auch diese Zahl bezieht sich auf die Arbeitsmigranten im ganzen Land und in allen Branchen, nicht nur auf die Toten bei WM-Projekten.

ZEIT ONLINE: Die Zahl 40 gibt es auch noch.

Wesemüller: Die summiert sich aus den jährlichen Berichten des Organisationskomitees. Da geht es nur um die Todesfälle der Menschen, die an WM-Projekten arbeiteten. Also an WM-Stadien, akkreditierten Hotels, Trainingsplätzen. Wir kritisieren, dass der Rahmen zu eng gesteckt wurde: Es wurde nicht untersucht, wer für die weitere Infrastruktur starb, die gebaut werden musste, damit diese WM überhaupt stattfinden kann. Die Fifa und das Organisationskomitee behaupten sogar, dass es von den 40 Fällen nur drei Todesfälle gibt, die unmittelbar mit der Arbeit zu tun hatten. Das ist aber unlauter. Auch hier wird in 18 Fällen keine detaillierte Todesursache angegeben, sondern von "natürlicher Ursache", "Herzstillstand" oder "akutem Atemstillstand" gesprochen. Wir wissen aus unseren eigenen Untersuchungen von Arbeitern, die im Bett gestorben, also einfach nicht mehr aufgewacht sind. Wahrscheinlich, weil sie Tag für Tag zwölf Stunden und mehr bei bis zu 40 Grad in der Hitze arbeiten mussten. So etwas gilt dann als "nicht bei der Arbeit gestorben". Dabei gibt es natürlich einen Zusammenhang.

ZEIT ONLINE: Von welcher Zahl gehen Sie insgesamt aus?

Wesemüller: Wir können leider keine Zahl nennen, weil die Tode eben nicht gründlich untersucht werden. Das ist der eigentliche Skandal. Da heißt es oft lediglich, dass jemand an Herz-Kreislauf-Versagen gestorben ist. Das sagt aber nichts aus. Eigentlich müssten diese Menschen autopsiert werden und zusätzlich müsste man Fragen stellen: Wie sah die Arbeit aus? Wie warm war es? Wie war der Gesundheitszustand? Nur so kann man sagen, ob der Tod eine natürliche Ursache hatte oder nicht. Wir können sagen, dass sich unter diesen 15.021 Menschen vermutlich sehr viele befinden, die wegen der Arbeitsumstände gestorben sind, viele zwischen 20 und 30 Jahren, die keine Vorerkrankungen hatten. Das haben uns die Familien erzählt. Zudem mussten die Arbeiter Gesundheitschecks durchlaufen, bevor sie überhaupt nach Katar fliegen durften. Auch die ganz offiziellen Zahlen Katars müssen schon stutzig machen: 43 Prozent der Nichtkatarer zwischen 20 und 49 sterben an Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Das steht überproportional zu der Anzahl der Katarer, die im selben Zeitraum gestorben sind, nämlich 28 Prozent. Das ist ein totales Missverhältnis. Entweder, diese Kategorie ist zu ungenau – oder sie stimmt, dann müssen die Lebensverhältnisse der Nichtkatarer extrem viel schlechter sein. 

ZEIT ONLINE: Wie haben sich die Lebensverhältnisse der Arbeiter verändert in den vergangenen Jahren?

Wesemüller: Die überwiegende Mehrheit der Arbeitsmigranten arbeitet gar nicht auf WM-Baustellen. Von den rund 2,6 Millionen sind das schätzungsweise nur zwei bis drei Prozent. Wenn wir über deren Arbeitsbedingungen sprechen, hat das erst mal wenig mit der WM zu tun. Für diejenigen, die für die WM angestellt sind, ergaben sich vier Jahre nach der Vergabe Verbesserungen. Das Organisationskomitee hat sogenannte Workers' Welfare Standards verabschiedet. Für den großen Rest hat sich erst seit 2017 langsam etwas verändert. Da hat Katar einen groß angelegten Arbeitsreformprozess gestartet. Für die vielen Hausangestellten etwa, meist Frauen, die sehr abhängig von ihren Arbeitgebern sind, wurden die täglichen Arbeitszeiten begrenzt, es wurde ein freier Tag in der Woche eingeführt, es gibt nun Erholungszeit innerhalb des Tages und bezahlten Urlaub. Seit März 2021 gibt es auch einen Mindestlohn.

ZEIT ONLINE: Wie hoch ist der?

Wesemüller: 275 US-Dollar. Der müsste eigentlich schon wieder angepasst werden, weil es zu wenig ist.

ZEIT ONLINE: Hat sich noch was verbessert?

Wesemüller: Bisher brauchten Arbeitnehmer eine Ausreisegenehmigung, um das Land wieder verlassen zu können. Und eine Bescheinigung ihres alten Arbeitgebers, wenn sie den Arbeitgeber wechseln wollten. Diese Auflagen wurden abgeschafft. Zudem hat Katar zwei wichtige internationale Menschenrechtsabkommen unterzeichnet. Es gibt auch einen Fonds, an den sich Leute wenden können, die ihre Löhne nicht ausbezahlt bekommen. Gewerkschaften darf man in Katar aber trotzdem noch nicht gründen.

ZEIT ONLINE: Was passiert, wenn ein Arbeiter den gesetzlichen Mindestlohn einfach nicht bekommt?

Wesemüller: Das ist genau das Problem. Er müsste ihn einfordern. Dafür gibt es einen neu eingeführten Ausschuss, der Streitigkeiten mit dem Arbeitgeber regeln soll. Auch er wurde im Zuge der Reformen eingeführt. Der Arbeiter müsste dort vorsprechen und seine Forderungen belegen. Unsere Recherchen legen nahe, dass es viele Leute noch nicht mal bis vor den Ausschuss schaffen, und wenn doch, dass die Anliegen dort sehr langsam bearbeitet werden. Auch wenn die Ansprüche in den Streitschlichtungskomitees belegt werden, werden regelmäßig ausstehende Löhne nicht gezahlt. Die Menschen müssen zudem auch weiterhin horrende Anwerbergebühren in ihren Herkunftsländern zahlen. Das sind Summen zwischen 1.000 und 3.000 Dollar. Die müssen sie erst einmal über Monate, wenn nicht gar Jahre abarbeiten. Wir fordern daher von der katarischen Regierung, sich stärker mit den Herkunftsländern abzustimmen, um solche Praktiken zu unterbinden, und die Arbeiter zu entschädigen, die dafür zahlen mussten, arbeiten zu dürfen.

Warum das Argument von Uli Hoeneß unlauter ist

ZEIT ONLINE: Wie viele von diesen Reformen stehen auf dem Papier und wie viele werden wirklich gelebt?

Wesemüller: Diese Reformen hätten in der Theorie eine sehr große Kraft, das Arbeitssystem zu verändern, und sie wären auch in der Region einmalig. In der Realität werden sie aber nur unzureichend umgesetzt. Es gibt unbestreitbar Verbesserungen – zum Beispiel bei der Ausreise aus dem Land oder hinsichtlich der Erstattung von gestohlenen Löhnen –, aber das reicht bei Weitem nicht aus.

ZEIT ONLINE: Unzureichend umgesetzt – was heißt das?

Wesemüller: Katar behauptet gerne, das Kafala-System wurde abgeschafft. Aber wir sehen das nicht, es wurde allenfalls reformiert. Um ein Beispiel zu nennen: Obwohl es die angesprochenen Bescheinigungen nicht mehr braucht, hat sich ein System entwickelt, in dem man sie trotzdem noch braucht. Viele neue Arbeitgeber wollen diese sogenannte Unbedenklichkeitsbescheinigung sehen, obwohl sie kein Recht dazu haben. Wenn der alte Arbeitgeber diese nicht ausstellt, können die Menschen den Job nicht wechseln. Einige Arbeiter sagten uns, dass da die Lage vorher besser war, weil wenigstens klar war, woran sie waren. Oder: Nach neuer Gesetzgebung dürften Arbeitnehmer eine Pause machen, wenn es zu heiß ist oder sie sich nicht gut fühlen. Wer aber weiß, wie abhängig die Arbeiter in Katar von ihren Arbeitgebern sind, der weiß, dass sich das viele einfach nicht trauen. Wir fragen uns deshalb, warum solche Pausen nicht einfach vorgeschrieben werden. Was spricht denn dagegen, alle zwei Stunden eine Pause zu machen?

ZEIT ONLINE: Sie haben auch Untersuchungen zum Thema Zwangsarbeit gemacht.

Wesemüller: Im April haben wir acht Firmen aus dem Sicherheitssektor untersucht und in sechs Zwangsarbeit festgestellt. Ein Arbeiter hat uns erzählt, dass er bis zu 84 Wochenstunden arbeiten musste. Er hatte Angst, sonst keinen Lohn zu bekommen. Und drei dieser Firmen haben auch an die WM Sicherheitspersonal ausgeliehen. Bei den Hausangestellten sehen wir ähnliches: Da gibt es noch immer viel Missbrauch, verbalen, physischen, auch sexuellen, es gibt noch immer 18-Stunden-Tage, aber dagegen wird nicht vorgegangen. Es gibt keine Überprüfungen, keine Sanktionen.

ZEIT ONLINE: Stimmt es, dass die Arbeitgeber noch immer das Visum der Arbeiter canceln können?

Wesemüller: Das ist das Absurde. Theoretisch darf der Arbeitgeber nicht mehr verhindern, dass jemand ausreist. Praktisch ist er aber immer noch dafür zuständig, die Aufenthaltsgenehmigung für seine Arbeiter zu beantragen. Der Arbeitgeber kann also auch dafür sorgen, dass die Aufenthaltsgenehmigung nicht verlängert wird, dann ist der Mensch illegal im Land und wird abgeschoben. Und es gibt einen klaren Straftatbestand, das sogenannte Weglaufen, also das unerlaubte Entfernen vom Arbeitsplatz. Auch so etwas kann zu einer Abschiebung führen. Wer zu einem Ausschuss geht, um seine Rechte einzuklagen, muss sich aber vom Arbeitsplatz entfernen. Deshalb fordern wir, dass dieser Straftatbestand gestrichen wird.

ZEIT ONLINE: Ein Begriff, der oft benutzt wird, ist Sklaverei. Sind diese Menschen Sklaven?

Wesemüller: Wir benutzen den Begriff nicht, weil er historisch auf etwas anderes verweist und wir das nicht relativieren wollen. Und der Begriff trifft auch per Definition nicht zu. Laut UN ist Sklaverei ein Zustand, wo eine Person wie eine Sache gekauft, verkauft oder verschenkt werden kann, sie also Eigentrm einer anderen Person ist. Wir reden dagegen in Katar von Zwangsarbeit. Wenn Menschen eine Arbeit ausführen müssen, die sie nicht ausführen wollen oder länger ausführen müssen, als sie eigentlich wollen. Zwangsarbeit ist also unfreiwillige Arbeit, teils unter Androhung von Strafen. Wir haben nachgewiesen, dass Arbeiter, die sich einen freien Tag oder Krankentag nehmen wollten, keinen Lohn bekommen haben. Sie arbeiten also trotzdem weiter, weil sie zum Beispiel gezwungen sind, ihre Schulden abbezahlen müssen oder Angst haben, in Abschiebehaft zu kommen.

ZEIT ONLINE: Kommen wir zur Uli-Hoeneß-Frage: Haben sich die Bedingungen durch die WM für die Arbeiter also wirklich verbessert?

Wesemüller: Dieses Argument kommt so daher, als habe man die WM mit der Absicht vergeben, die Menschenrechte vor Ort zu verbessern. Das war definitiv nicht der Fall. Ich finde das Argument unlauter, weil das Gegenteil der Fall ist. Bei der WM-Vergabe haben menschenrechtliche Kriterien überhaupt keine Rolle gespielt. Weder wurde die Menschenrechtssituation analysiert, noch musste Katar irgendeinen Plan vorlegen, wie es diese Missstände angehen will. Wir fordern ja gar nicht, dass Sportereignisse nur noch in Ländern stattfinden, in denen es keine Menschenrechtsverletzungen gibt, diese Länder gibt es nämlich nicht. Aber wir fordern, sich vorab ein Bild zu verschaffen und zu überlegen, was man tun kann. Dass es zu Verbesserungen bei den Arbeitsbedingungen kam, ist nicht das Verdienst der Fifa. Und Katar selbst ist diesen Weg nicht freiwillig gegangen. Das ist der Verdienst breiter Berichterstattung, von NGOs und humanitären Organisationen und einer Klage wegen Zwangsarbeit, die die Internationale Arbeitsorganisation ILO 2014 gegen Katar eingereicht hat. 

ZEIT ONLINE: Wie nachhaltig sind die Reformen, werden sie nach der WM bestehen bleiben?

Wesemüller: Wir haben festgestellt, dass es im vergangenen Jahr schon Stimmen in der katarischen Gesellschaft gegeben hat, die Reformen sollten doch bitte wieder zurückgenommen oder eingeschränkt werden. Vielen in Katar gehen sie zu weit. Das lässt natürlich für die Zeit nach der WM nichts Gutes hoffen. Gleichzeitig denkt Katar selbst über die WM 2022 hinaus und möchte sich langfristig als Player im internationalen Sportgeschäft etablieren. Ob Katar also das Rad komplett zurückdrehen kann, ist durchaus fraglich. Mit Sicherheit wird es auch nach der WM darauf ankommen, dass die internationale Aufmerksamkeit nicht auf null zurückgeht.

ZEIT ONLINE: Jüngst hat der katarische Botschafter deutschen Kritikern Rassismus vorgeworfen.

Wesemüller: Wir klagen ja nicht nur Katar an. Wir kritisieren auch Menschenrechtsverletzungen in Deutschland, rassistische Übergriffe von der Polizei etwa. Das Argument, man sollte die katarische Kultur respektieren und damit etwa auch die Haltung zu Homosexualität, weisen wir aber zurück. Menschenrechte sind universell und haben nichts mit einer Kultur zu tun. Das Recht, aufgrund seiner sexuellen Orientierung nicht diskriminiert zu werden, ist ein Menschenrecht. Allerdings muss ich auch sagen, dass es Katar mit der aktuellen Medienberichterstattung auch manchmal leicht gemacht wird.

ZEIT ONLINE: Wieso?

Wesemüller: Weil sich die Kritik fast nur auf das Land fokussiert. Dabei ist die Fifa ebenso schuld an der Misere. Die Fifa hat die WM dahin vergeben, hat lange Verantwortung für die Menschenrechtsverletzungen abgestritten. Der Diskussion täte es gut, würde sie sich ebenso der Fußballwelt widmen. In Deutschland hat sich da zuletzt einiges getan, wir haben auch den DFB in die Pflicht nehmen können. In diese Richtung muss es weitergehen, Fifa und DFB haben sich nun eine Menschenrechtspolicy geben. Dahinter gibt es kein Zurück mehr.