Deutschland ist im Energiekrieg mit Russland. Das Paket III könnte nicht reichen. Um den Winter durchzustehen, muss sich auch die Union bewegen. Ein Kommentar.
Es verdient höchsten Respekt, wie der Kanzler und die Ampel-Koalitionäre mit sich ringen, um zum Wohle des Landes das bestmögliche dritte Entlastungspaket zu zimmern. Und es ist letztlich egal, ob wie schon bei Paket II gegen den eigenen Grundsatz verstoßen wird, dass es keine Nachtsitzungen geben soll.
Der Druck ist gewaltig, die Zustimmung schwindet und die Krise ist komplex – unter diesen Vorzeichen ist es ein wichtiges Signal, dass ein wuchtiges Paket gelungen ist, dass das Vertrauen in der Koalition intakt ist. Fast nichts drang vorab raus. Alle, vor allem auch die FDP und ihr Vorsitzender und Finanzminister, Christian Lindner, haben sich bewegt. Ob es reicht?
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65 Milliarden, an vielen Stellschrauben wird gedreht. Aber die vielleicht wichtigste Maßnahme ist zunächst nur angekündigt. Erst wenn ein System gefunden ist, um zum Beispiel bei Betreibern von Kohlekraftwerken, Solar- und Windenergieanlagen die teils absurden Gewinne abzuschöpfen, die sie im Stromsektor als Folgewirkung der hohen Gaspreise machen, soll damit eine Strompreisbremse finanziert werden.
Andere Länder haben früher gegengesteuert
Dabei würde ein Basisverbrauch deutlich vergünstigt. Und: Für alle Bürger mit Gasheizungen gibt es bisher keine Aussicht auf eine solche Preisbremse – hierzu wird lediglich eine Kommission eingesetzt. Zudem gibt es weitere Einmalzahlungen und Entlastungen. Aber vieles ist noch vage, vieles sind klassische Kompromisse, etwa zum künftigen 49- bis 69-Euro-Ticket.
Länder wie Spanien und Portugal haben längst Energiepreisbremsen eingeführt – und schöpfen die Zufallsgewinne ab. Das ist etwas, das am Gerechtigkeitsempfinden vieler Bürger rührt, die wegen der Preissteigerungen gerade verzweifeln. Es ist gut, dass Kanzler Olaf Scholz den Auftritt im Kanzleramt zu einigen klaren Botschaften nutzt.
Ja, das Land steht vor einer schweren Zeit. Aber der Koalition könnte das Paket nur kurzfristig Luft verschaffen.
Ein schwieriges Versprechen des Kanzlers
Scholz‘ Politikstil kommt immer mehr an Grenzen. Er schafft es selten, emotionale Brücken zu den Bürgern zu bauen. Und er hat ein kaum haltbares Versprechen abgegeben: Der Satz „You’ll never walk alone“ ist eher zufällig von ihm ausgewählt worden, folgte keiner größeren Strategie – so wie die Ampel fast täglich aus dem Stehgreif improvisieren muss.
Nun muss er dieses Versprechen, das für manche Bürger wie die Garantie der Spareinlagen in der Finanzkrise wirkt, irgendwie erfüllen. Aber der Staat kann nicht alles ausgleichen, auch wenn die SPD seit Jahren einen Hauptauftrag darin sieht, wie ein Erste-Hilfe-Team neue Probleme mit neuen Wohltaten zuzupflastern.
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Stattdessen sollte der Kanzler die Bürger deutlicher als bisher auf die neue Realität einstellen: Es wird nach vielen guten Jahren eher schlechte geben, mit Wohlstandsverlusten. Aber gemeinsam kann man das durchstehen. Verhindert werden muss dabei, dass die Schere im Land noch weiter auseinander geht und es zu einer Wutwelle kommt. Aber das geht nur mit klaren Ansagen.
Scholz sollte klarer kommunizieren
Warum sagt Scholz nicht klipp und klar: Wir sind wegen Putins Verbrechen mitten in einem Wirtschafts- und Energiekrieg mit Russland. Es wird Gas fehlen im Winter, wenn nichts über Nord Stream 1 kommt.
Die bereits zu 85 Prozent gefüllten Gasspeicher allein werden das Land sicher nicht über den Winter bringen. Wie groß die Verwerfungen werden, hängt von einem Faktor ab, den keine Koalition der Welt beeinflussen kann: Dem Wetter.
Prinzip Hoffnung – aber erste Stahlwerke stellen Betrieb ein
Es war ein Fehler, dass die EU-Staaten nicht wie bei den Corona-Impfstoffen gemeinsam agiert und Gas eingekauft haben, etwa durch Verträge mit Katar. Das hätte auch die Preise zum eigenen Vorteil beeinflussen können. Es droht eine Pleitewelle, viele Menschen können ihre Arbeit verlieren. Man muss nur die Alarmrufe etwa der Bäckereien hören, ganz zu schweigen von der Glas-, Chemie- und Stahlindustrie.
Der Stahlkonzern ArcelorMittal hat bereits seine Produktion in Bremen und Hamburg eingestellt. Wladimir Putins perfider Plan zielt auch auf die Zerstörung des Rückgrats der deutschen Wirtschaft, der Industrie, ab.
Diese allein von Putin angezettelte Krise – es ist gut, dass Scholz das klar betont – ist so groß, dass man nicht mit immer neuen Paketen dagegen ankommen wird. Es braucht jetzt kein Beharren auf eigenen Dogmen (die Grünen sollten grünes Licht für eine Verlängerung der Atomlaufzeiten geben), sondern pragmatische Krisenpolitik, echte Führung, nicht nur angekündigte.
Merz muss der Ampel Kooperation anbieten
Das richtet sich an den Kanzler und die Ampelparteien, bringt aber auch die Opposition ins Spiel. Am 9. Oktober ist Landtagswahl in Niedersachen, aber ist die Lage nicht zu ernst, als dass die Union weiter ihren knallharten Kurs gegen die Ampel fährt?
Wäre es nicht an der Zeit, dass Friedrich Merz der Ampel sagt: Wir helfen Euch, lasst uns gemeinsam überlegen, was als nächste Schritte zu tun ist – und gemeinsam unterstützen wir weiter die Ukraine, stellen die Sanktionen gegen Russland nicht in Frage. Die Union ist es, die unter Angela Merkel diese fatale Gasabhängigkeit von Russland, im Zusammenspiel mit der SPD, ausgebaut hat. Sie hat also besondere Verantwortung.
Man muss nur nach Tschechien schauen, wo am Samstag Zehntausende gegen die hohen Energiepreise demonstriert haben und bekommt einen Vorgeschmack auf ein mögliches Negativszenario: Unter dem Druck der Proteste können im Winter Regierungen stürzen oder sich dafür entscheiden, die Sanktionen gegen Russland aufzuheben.
Die gemeinsame EU-Haltung steht auf dem Spiel. Und Putin will genau das – den Westen spalten. Seine Trolle leisten auch in Deutschland erfolgreiche Arbeit. Das Entlastungspaket III ist ein wichtiger Schritt, aber jetzt muss es erstmal alles umgesetzt werden, vor allem handwerklich sauber. Und die noch größere Kunst wird es sein, das Land und Europa im Winter dann zusammenzuhalten.
Entlastungspaket der Ampel: Es bleiben viele Fragezeichen – und unangenehme Wahrheiten - Tagesspiegel
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