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Tuesday, July 5, 2022

Versicherung: Ein Jahr nach der Flut: Viele Lehren – wenig Maßnahmen - Handelsblatt

Ahrtal, Erftstadt Als das Sturmtief „Bernd“ vor knapp einem Jahr im Ahrtal, in Erftstadt und in weiteren Regionen für verheerende Überschwemmungen sorgte, blieb es im Servicecenter der Zurich Versicherung in Köln zunächst gespenstisch ruhig. „Das war sehr ungewöhnlich“, erinnert sich Horst Nussbaumer, Schadenvorstand bei Zurich Deutschland. „Wir sahen die Ereignisse im Fernsehen, aber kaum ein Kunde meldete sich bei uns.“ Normalerweise stehen nach jedem größeren Hagel die Telefone nicht still.

Doch dieses Mal war vieles anders. Die Kunden mussten erst einmal ihr Hab und Gut retten, sie suchten vermisste Familienmitglieder und brachten sich selbst in Sicherheit. Dann erst kamen die verzweifelten Anrufe: „Mein Haus ist weg, was soll ich tun?“ Es waren existenzielle Fragen, mit denen die Zurich-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter konfrontiert wurden. Viele seien überfordert gewesen, sagt Nussbaumer. Manche vermissten selbst Freunde oder Verwandte, die in der Flutregion lebten.

Fast ein Jahr ist es her, als in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli immense Regenfluten ganze Regionen unbewohnbar machten. Laut vorläufigen Schätzungen liegt der gesamtwirtschaftliche Schaden in Europa bei 40 bis 50 Milliarden Euro. Auf rund 8,2 Milliarden Euro summiert der Branchenverband GDV die versicherten Schäden durch „Bernd“ an Hausrat, Gewerbe, Industrie und Fahrzeugen. Niemals zuvor mussten Versicherer in Deutschland mehr für Schäden aus einer Naturkatastrophe zahlen.

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Versicherern, Wissenschaftlern und Verbraucherschützern ist klar: Solch extreme Unwetterereignisse werden keine Einzelfälle bleiben. Die Schäden könnten sogar noch größer ausfallen. „Als Folge des Klimawandels müssen wir künftig immer öfter mit Wetterextremen und schweren Schäden rechnen“, warnt GDV-Hauptgeschäftsführer Jörg Asmussen.

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Zurich-Vorstand Nussbaumer und seine Kollegen, die eine Gruppe Journalisten vor wenigen Tagen mit ins Ahrtal und nach Erftstadt nahmen, wollen die Öffentlichkeit sensibilisieren. Sie wollen zeigen, was in der Vergangenheit falsch gelaufen ist, wie der Aufbauprozess verbessert werden kann und wie sich die Schäden künftiger Naturkatastrophen minimieren lassen.

Vor Ort sieht die Lage auch zwölf Monate nach der Katastrophe noch bedrückend aus. In der Telegrafenstraße in Bad Neuenahr ist etliche Meter von der Ahr entfernt an den Häusern die Wasserlinie noch deutlich erkennbar. Viele Gebäude sind im Erdgeschoss entkernt, die Fassaden sind kaputt, der Wiederaufbau geht nur langsam voran.

Bad Neuenahr

Auch knapp ein Jahr nach der Hochwasserkatastrophe prägen Schotter und Bauzäune das Bild.

(Foto:&#160Handelsblatt/Schier)

Etwa 20 Prozent der Schäden, die der Zurich Versicherung gemeldet wurden, sind bis heute nicht reguliert. Es gebe nicht genügend Handwerker, und die Preise seien massiv gestiegen, erläutert Nussbaumer. Banner mit der Aufschrift „Wir machen weiter“ und „Unsere Stadt wird #wieder bunt“ zeigen, dass die Menschen nicht aufgeben wollen.

„Grundsätzlich bin ich sehr dafür, das Ahrtal wieder aufzubauen“, sagt Michael Szönyi, Leiter des Hochwasser-Resilienz-Programms der Zurich Insurance. Aber man müsse anders bauen und anders planen als früher. Wichtig seien Prävention, Versicherungsschutz und verbindliche Regeln der Politik.

1. Präventionsmaßnahmen endlich umsetzen

Viktor Rözer, Hydrologe an der London School of Economics, fordert, dass jetzt endlich die Präventionsmaßnahmen umgesetzt werden, über die schon jahrzehntelang diskutiert wird. Rözer widerspricht der Lesart, dass es sich bei der Flut des vergangenen Jahres um ein singuläres, nicht vorhersagbares Ereignis gehandelt habe: „Auch 1804 und 1910 gab es starke Hochwasser mit ähnlichen Abflussmengen.“ 

Schon in den 1920er-Jahren habe es weitreichende Hochwasserschutzpläne gegeben. Man habe beispielsweise im oberen Ahrtal Rückhaltebecken bauen wollen. Umgesetzt wurden die Pläne aber nie, das Geld fehlte.

Rözer empfiehlt, die aktuellen Hochwassermodelle zu überarbeiten und darin auch länger zurückliegende Ereignisse sowie die zukünftigen Auswirkungen des Klimawandels zu berücksichtigen. Zudem müssten mehr Messstationen für Niederschlag und Flusspegel aufgebaut werden.

Zudem war im Ahrtal im vergangenen Jahr die Verkehrsinfrastruktur ein Problem. Viele Brücken hatten zu enge Durchlässe. In einigen Durchfahrten blieben Campingfahrzeuge stecken, bis die Wassermassen die gesamte Brücke wegrissen und eine weitere Flutwelle auslösten.

Ahrweiler

Vor der Flut stand hier eine Brücke. Sie wurde bei der Flutkatastrophe zerstört.

(Foto:&#160Handelsblatt/Schier)

Viele der zerstörten Brücken sind noch nicht wieder aufgebaut. In Ahrweiler stehen neben der neuen Behelfsbrücke die Ruinen des alten Übergangs. Für den Wiederaufbau fordert Zurich-Manager Szönyi ein Gesamtkonzept - das zum Beispiel Brücken mit größeren Durchlässen beinhaltet. In besonders gefährdeten Zonen dürfte es zudem keinen Neubau von Wohngebäuden mehr geben, betont Nussbaumer.

Auch für die eigene Arbeit hat der Versicherungsvorstand Lehren aus der Flutkatastrophe gezogen: Das Krisenmanagement müsse verbessert werden, Aktionismus helfe keinem. Die erste Aufgabe müsse es sein, sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen, um dann die Hilfe für die Betroffenen zu priorisieren.

2. Versicherungsschutz deutlich erhöhen

Diskussionen gibt es auch über den richtigen Versicherungsschutz. Nicht einmal die Hälfte der Hauseigentümer im Ahrtal hatte eine Elementarschadenversicherung abgeschlossen. Dieser Zusatzbaustein greift anders als gewöhnliche Wohngebäudeversicherungen auch bei Starkregen, Überschwemmungen und Hochwasser. Für die Betroffenen bedeutete das: Für das, was nicht versichert ist, kann es auch keine Entschädigung geben.

Noch laufen die Diskussionen zwischen Politik und Verbänden über eine tragfähige Lösung für die Versicherung von Elementarschäden. Die Bundesländer sprachen sich jüngst für eine Pflichtversicherung aus. Eine verpflichtende Basisversicherung gegen Elementarschäden befürwortete der Sachverständigenrat für Verbraucherfragen schon im Februar. So wie es sie bis ins Jahr 1994 in Baden-Württemberg gab.

Doch die Versicherer sehen Probleme. Eine verfassungskonforme Umsetzung werde am Ende nur mit deutlich eingeschränktem Versicherungsschutz umsetzbar sein, befürchtet Jörg Asmussen, Hauptgeschäftsführer des Verbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV). Probleme sieht Asmussen zum Beispiel bei hochgefährdeten Gebäuden oder bei Neubauten.

Der GDV schlägt stattdessen ein sogenanntes Opt-out-Modell vor. Der Elementarschutz wäre dabei automatisch in der Wohngebäudeversicherung integriert, der Kunde könnte ihn jedoch abwählen.

>> Lesen Sie dazu: Nach teuerster Katastrophe aller Zeiten: Neue Pflichtversicherung für Hausbesitzer rückt näher

Manche Versicherer haben bereits Tatsachen geschaffen. Zum Beispiel bietet die Allianz ihren Neukunden seit Februar eine integrierte Elementarversicherung automatisch an. Der Branchenführer spricht sich aber ebenfalls gegen eine Pflichtversicherung aus. „Das wäre fundamental die falsche Lösung, weil so das individuelle Risiko jedes einzelnen Kunden ausgeblendet und kein Anreiz zur Prävention geschaffen würde“, sagt Frank Sommerfeld, Chef der Allianz Sachversicherung.

Zumindest ein Problem haben Gegner und Befürworter einer Pflichtversicherung gemeinsam: Die Bereitschaft der Hausbesitzer zur zusätzlichen Absicherung ist seit der Flut bereits wieder deutlich gesunken und liegt in etwa auf dem gleichen Niveau wie vor der Flutkatastrophe.

Mayschoß

Bunte Bänder erinnern an die Flutkatastrophe vor rund einem Jahr.

(Foto:&#160Handelsblatt/Schier)


Daran ändern auch die bunten Bändchen nichts, die an den Geländern in Mayschoß an die Flut im vergangenen Sommer erinnern. Hydrologe Rözer fordert, dass mehr solcher Erinnerungen zurückbleiben sollten – dass beispielsweise Häuser und Bäume mit Wasserlinien markiert werden sollten, damit die Katastrophe präsenter in den Köpfen der Bevölkerung bleibt.

3. Über Poollösung alle Hauseigentümer einbeziehen

In Deutschland gelten wenige Gebäude als schwer oder gar nicht versicherbar. Die rund 98.000 Adressen, die akut gefährdet sind, lassen sich genau definieren. Sie gehören zur höchsten Gefährdungsklasse vier im Zonierungssystem für Überschwemmung, Rückstau und Starkregen (ZÜRS), das der GDV entwickelt hat. Hochwasser droht hier mindestens einmal alle zehn Jahre.

Auf der anderen Seite sind 92,8 Prozent der Immobilien und damit 20,4 Millionen Adressen nicht von Hochwasser größerer Gewässer betroffen. Sie liegen in der Kategorie eins.

Diese Einteilung hat allerdings auch Kritiker. Starkregen kenne keine Hochrisikozonen, sondern könne nahezu jede Region in Deutschland heimsuchen, betont der Bund der Versicherten (BdV).

An der Erft war die Lage beispielsweise eine andere als im Ahrtal. Hier gab es Überschwemmungen in einer breiten Fläche, viele Transportwege waren überflutet. Unvergessen sind die Bilder der Kiesgrube in Erftstadt-Blessem. Durch einen Erdrutsch entstand ein riesiger Krater und riss Teile des Wohngebiets mit sich.

Erftstadt-Blessem

Bei der Hochwasserkatastrophe wurde die Kiesgrube geflutet - als das Erdreich am Rand abbrach, wurden mehrere Häuser zerstört.

(Foto:&#160Handelsblatt/Schier)

Um auch Hauseigentümern in Hochrisikogebieten einen Versicherungsschutz anbieten zu können, haben die Verbraucherschützer vom BdV der Politik ein kollektives Pflichtsystem vorgeschlagen. Demnach sollten die Länder gemeinsam mit den Versicherern eine Poollösung bereitstellen.

Dabei würden Hausbesitzer mit höheren Grundsteuern belastet, und die zusätzlichen Einnahmen sollen einen von den Ländern organisierten und von Versicherern betriebenen Risikopool finanzieren. Der Plan sieht vor, dass alle Immobilieneigentümer, die eine Elementarversicherung abschließen, von der höheren Steuer befreit werden. Anreiz zum Abschluss der Versicherung wäre somit auch das Vermeiden von Steuerzahlungen.

„Die Länder müssten klar festlegen, was abgesichert sein soll“, sagt BdV-Chefökonom Constantin Papaspyratos. Hohe Selbstbehalte und Einschränkungen bei der versicherten Leistung könnten ermöglichen, dass auch Häuser in Hochrisikogebieten abgesichert werden können.

Dennoch wird es auch künftig Großkatastrophen geben, deren Schäden Versicherer nicht allein tragen können. BdV-Vorstand Stephen Rehmke zufolge sollte die Politik den Umgang mit solchen sogenannten Kumulrisiken verbindlich regeln und nicht – wie bisher – nach einer Katastrophe unstrukturiert Nothilfen versprechen.

Wie sich die Bundesregierung selbst eine Pflichtversicherungslösung konkret vorstellt, ist bisher unklar. Bis Dezember will das Bundesjustizministerium Vorschläge präsentieren.

Mehr: Länder wollen Pflichtversicherung für Elementarschäden an Gebäuden

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