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Sunday, February 6, 2022

Kuscheltherapie: „Durch die Pandemie haben viele gespürt, dass Berührungen ein Grundbedürfnis sind“ - DIE WELT

Zwischenmenschliche Bindungen werden durch Berührungen gestärkt. Studien zeigen, dass Frühchen durch Körperkontakt schneller wachsen und das Streicheln von Haustieren Stress reduziert. Und dennoch: Als Therapieverfahren wird das Kuscheln derzeit nicht anerkannt. Meike Westerkamp arbeitet als Kuscheltherapeutin einer Berliner Praxis namens „berlin cuddles“. Hier erklärt die 42-Jährige wie sie gegen das Stigma des Kuschelns kämpft und berichtet von ihrem Alltag.

ICONIST: Wie läuft eine Kuschelstunde ab?

Meike Westerkamp: Die reine Kuschelzeit dauert 50 Minuten. Meist beginnen wir mit einem Gespräch: Was mag die Person? Was nicht? Bevor es sich die Klient*innen in der Kuschelecke gemütlich machen, haben sie Zeit, sich frisch zu machen und sich umzuziehen. Dann wasche ich meine Hände und mache ruhige Musik an. Was danach passiert, ist individuell. Manchen ist das reine Kuscheln am Anfang zu viel, dann fängt man vielleicht mit einem Händehalten an, atmet gemeinsam oder umarmt sich, egal ob im Stehen, Sitzen oder Liegen. Gerade in der ersten Stunde sind viele verunsichert und kompensieren das mit Reden. Das sorgt für innere Hektik. Ich versuche sie dann in den Moment zurückzuholen, ohne auf das Gespräch einzugehen. Am Ende verlasse ich den Raum, damit die Klient*innen die Situation in Ruhe nachspüren können.

ICONIST: Wie hat Sie zu diesem eher ungewöhnlichen Beruf gebracht?

Westerkamp: Nach einer beruflichen Pause wollte ich nicht mehr in meinen alten Job. Ich habe Politikwissenschaft und Soziologie studiert, arbeitete unter anderem als Mediationstrainerin im Jugendgefängnis und als Familienhelferin in der Beratung. Ich wollte weiter etwas ergebnisorientiertes machen, aus dem die Gesellschaft schöpfen kann, das mir aber freie Rahmenbedingungen bietet, die förderlich für den Erfolg meiner Arbeit sind. Ich hatte von professionellen Umarmern gehört und nach einiger Recherche mir eine Stunde bei einer Kuscheltherapeutin gebucht: Eine Woche lang war ich voll positiver Energie. Mit der Arbeit begonnen habe ich zu Beginn von Corona. Die Ausbildung ist staatlich nicht anerkannt. Die Berührungen sind intuitiv und jede Sitzung individuell, man lernt keine speziellen Techniken.

Das eigene Wohlbefinden
Statussymbol Selfcare: Nicht jeder kann sich leisten, zusätzlich zu Job, Haushalt und Familie auch noch regelmäßig eine Gesichtsmaske aufzulegen und zu meditieren
Selfcare-Lüge

ICONIST: Welche Menschen kommen zu Ihnen in die Therapie?

Westerkamp: Meine Klient*innen sind gemischten Alters von Mitte 20 bis 60 und unterschiedlich sozial integriert. Einige haben viele Freunde und eine große Familie, andere leben in Isolation. Viele fürchten Zurückweisung, wenn sie in ihrem Umfeld nach einer Umarmung fragen würden. Weil sie sich nicht trauen nach körperlicher Nähe zu fragen, möchten sie es bei mir üben. Ich erhalte häufig Feedback von Klient*innen: sei es, dass sie direkt nach der Stunde entspannt und glücklich sind oder Wochen später schreiben, dass sie sich getraut haben, körperliche Nähe zu erbitten.

ICONIST: Woher kommt diese Angst vor Zurückweisung?

Westerkamp: Unsere Gesellschaft ist kontrollbedürftig, das Zeigen von Verletzlichkeit eine Gefahr und Bedürftigkeit eine Schwäche. Deswegen wird das Kuscheln tabuisiert. Ich schaffe einen sicheren Rahmen und bin der Überzeugung, dass jeder Mensch Wohlwollen und Liebe verdient. Gerade durch die Pandemie haben viele gespürt, dass Berührungen ein Grundbedürfnis sind. Im Unterschied zum privaten Kuscheln, wo fast immer ein Nehmen und Geben besteht, lade ich ein, nur nehmend zu sein. Auch privat bin ich gern die Gebende und ein verkuschelter und haptischer Mensch.

Ihre Kuschelstunde folgt keinem einstudierten Ablauf: Jede Sitzung ist individuell und intuitiv
Ihre Kuschelstunde folgt keinem einstudierten Ablauf: Jede Sitzung ist individuell und intuitiv
Quelle: Mark Elms

ICONIST: Was ist so besonders am Kuscheln?

Westerkamp: Die Liste an positiven Effekten ist lang: innere Ruhe, Stärkung des Selbstbewusstseins, des Immunsystems sowie der zwischenmenschlichen Beziehungen, Reduzierung von Ängsten und Stress. Die Schlafqualität wird verbessert, Schmerzen werden gelindert. Die Haut ist unser größtes Organ und doch am wenigsten erforscht. Als Therapeutin helfe ich, Kontrolle abzugeben, Nähe zuzulassen, um daraus Stärke und Freude ziehen zu können.

ICONIST: Gibt es beim Kuscheln Regeln?

Westerkamp: Vor dem Termin schicke ich eine Vereinbarung mit Regeln, die beide Parteien unterzeichnen und die unter anderem beinhaltet, dass keine sexuelle oder romantische Handlung erfragt oder angedeutet werden darf, auf neutrale Gerüche geachtet und bestimmte Kleidung getragen werden muss. Bisher wurden die Regeln respektiert. Für den seltenen Fall, dass Grenzen überschritten werden, habe ich als Mediatorin gelernt, bestimmt, aber einfühlsam zu dem vereinbarten Rahmen zurückzuführen.

Lust und Tabus
Betony Vernons sexuelle Biografie begann im Alter von 15 Jahren
Lustberaterin Betony Vernon

ICONIST: Was muss passieren damit das Kuscheln in der Gesellschaft auf mehr Akzeptanz trifft?

Westerkamp: In England gibt es das Einsamkeitsministerium, in Berlin dachte man über Einsamkeitsbeauftragte nach: Würden Krankenkassen die Therapie als präventive Maßnahme anerkennen und die Leistung mitbezahlen, könnte sie integriert werden. Wenn in der Psychotherapie herauskommt, dass Patient*innen einen Berührungsmangel haben und eine Umarmung brauchen, ist es nicht die Aufgabe des Psychotherapeuten die Umarmung zu geben. Dafür wäre ich da, um das Bedürfnis zu befriedigen und das Leid zu minimieren.

Grundsätzlich entsprechen Gendersternchen nicht unserer Schreibweise. In diesem Fall sind wir dem ausdrücklichen Wunsch der Protagonistin nachgekommen.

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