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Das erste Angebot kommt noch vor den Gepäckbändern. »Hej!«, rufen zwei junge Frauen hinter einem kleinen Stand und lächeln fröhlich. »Do you need a covid test?« Wer in den vergangenen Monaten über den Kopenhagener Flughafen nach Dänemark einreiste, wurde oft so begrüßt, obwohl kaum jemand ohne Test losgeflogen sein dürfte. Doch die Dänen sind großzügig. Antigen- und PCR-Tests sind für die Bevölkerung ebenso frei zugänglich wie für Gäste.
Anders als in Deutschland wird ein großer Teil der Tests staatlich und regional organisiert, in derzeit 445 dafür geschaffenen Zentren. Für die Anmeldung zum PCR-Test gibt es eine landesweit einheitliche Internetseite. Antigentests können ohne Termin gemacht werden. Labore haben den Auftrag, auch bei hohem Andrang mindestens 80 Prozent der PCR-Tests spätestens bis zum Folgetag auszuwerten. Ergebnisse von Antigentest müssen nach 15 Minuten vorliegen, alle Daten werden zentral erfasst.
Fast 100 Millionen Tests in kaum zwei Jahren
Das Ergebnis dieser Strategie ist, dass Dänemark seit Beginn der Coronapandemie durchgehend zu den weltweiten Spitzenreitern beim Testen gehört. Fast 100 Millionen Tests wurden in den vergangenen beiden Jahren durchgeführt. In einem Land, das keine sechs Millionen Einwohner hat.
Doch das ehrgeizige Programm hat seinen Preis: Allein im Mai 2021, auf dem Höhepunkt der dritten Welle, sollen die Tests zwei Milliarden Kronen, umgerechnet fast 270 Millionen Euro, verschlungen haben. In einem Monat. Das geht aus Dokumenten hervor, die der Zeitung Berlingske vorliegen. Insgesamt kostete das Testen den dänischen Staat bislang schätzungsweise über eine Milliarde Euro. Selbst für nordische Verhältnisse eine stolze Summe – war es das wirklich wert?
Testen ist weltweit eines der wichtigsten Werkzeuge im Kampf gegen die Pandemie. Meist geht es darum, ob genügend Abstriche gemacht werden. In vielen Ländern ist es eine Geldfrage, in manchen vielleicht auch eine des Willens. Bislang gab es deshalb nur eine Regel: Wenn es viele positive Tests gibt, sollte dringend mehr getestet werden. So empfiehlt es die WHO. Aber kann ein Land umgekehrt auch zu viel testen? Und wenn ja, was wären die Folgen? Diese Fragen sind ein Novum.
Testzentrum in Kopenhagen 2021: Kann man auch zu viel testen?
Foto: Philip Davali / Ritzau Scanpix / IMAGOChristine Stabell Benn ist Professorin an der Universität Süddänemark und Mitglied einer Expertengruppe, die die Regierung bei der Kontaktverfolgung beraten soll. Immer wieder habe sie dort vorgeschlagen, die dänische Teststrategie wissenschaftlich zu überprüfen. »Aber es war, als ob man mit einer Wand redet«, schreibt sie dem SPIEGEL in einer E-Mail. »Das Gesundheitsministerium hat kein Interesse, die Tests zu hinterfragen. Man will einfach weitermachen.«
Was sie am meisten störe, so Stabell Benn, sei die aus ihrer Sicht nicht nachgewiesene Wirkung. Dazu kämen noch die Kosten. »Vielleicht hätten wir heute mehr Betten auf der Intensivstation, wenn wir weniger Geld für Millionen von Tests ausgegeben hätten.« Konnten Menschen nicht behandelt werden, weil anderswo zu viel getestet wurde?
Dass in Dänemark heute so diskutiert wird, zeigt, wie sich die Lage verändert hat. Weiterhin wird viel getestet, doch die Infektionszahlen sind inzwischen auch hier auf Rekordhöhe. In den weltweiten Omikron-Statistiken wurde Dänemark kurz vor Weihnachten sogar zum Superspreader – offensichtlich war Omikron schneller als jedes Testkonzept.
Noch im Herbst schien die Lage ganz anders, die Pandemie bereits zur Epidemie geschrumpft. Dänemark war damals Vorreiter beim Aufheben der Corona-Vorschriften. Über Parteigrenzen hinweg trugen Politikerinnen und Politiker diesen Schritt mit. Auch die Wissenschaft hatte wenig Einwände, Chefärzte begrüßten einen wieder per Handschlag, und in den Klubs konnte ohne Auflagen bis Sonnenaufgang getanzt werden.
Abgesichert werden sollte diese Strategie auch mit den vielen Tests. Skandinavische Offenheit, aber gut kontrolliert. Eine Formel, der das Land auch bei anderen Gelegenheiten gern folgt. Die Botschaft dieser Tage war klar: Wer sich testen lässt, benötigt keinen Lockdown.
Heute gibt es längst neue Beschränkungen, an Tanzen ist nicht mehr zu denken. Gleichzeitig ist der Großteil der Bevölkerung geimpft, und jeden Tag werden Tausende weitere Boosterimpfungen verabreicht. Damit entstehen neue Fragen – über Lockerungen, aber auch darüber, welche Strategien bisher sinnvoll waren. Inzwischen überlegen Liberale, Rechtspopulisten, Konservative, gemäßigte und radikale Linke in seltener Einigkeit, gemeinsam einen Untersuchungsausschuss einzusetzen, der die Teststrategie evaluieren soll.
Wenn die Tests etwas bewirkten, sagten Kritiker höhnisch, dann vor allem, dass die Deutschen schnell die Grenzen dichtmachten. Tatsächlich meldeten die beiden zentralen Riesenlabore für PCR-Tests früh erste Omikron-Fälle; noch vor anderen Ländern sequenzierte Dänemark alle positiven Proben konsequent. Doch war das ein Beweis dafür, dass neue Gefahren zeitnah erkannt wurden – oder dafür, dass sich das Virus trotz aller Tests munter ausbreiten konnte?
Epidemiologe Viggo Andreasen verteidigt die dänischen Massentests: »Wir können ja nicht die Menschen einsperren, um zu vergleichen«
Foto: privatEine Untersuchung der Universität Roskilde befeuerte zuletzt genau diesen Streit. Die Hypothese der Wissenschaftler war, dass mehr Tests zu einer Entlastung der Krankenhäuser geführt haben müssten. Schließlich sollten Infektionsketten durchbrochen, Infizierte isoliert werden.
Die Autoren fanden, so sagen sie, jedoch wenig Hinweise, dass das auch gelang. Peter Kamp Busk war einer von ihnen. Im dänischen Rundfunk zerpflückte er die bisherige Strategie kürzlich regelrecht. Sein Fazit: »Unsere Forschung zeigt, dass der Effekt der Massentests so gering ist, dass er in der Praxis nicht zur Eindämmung der Epidemie beiträgt.«
Viggo Andreasen sieht das anders. Auch er forscht an der Universität Roskilde und ist einer der Experten, die sich früh für das dänische Testprogramm ausgesprochen haben. Hinter dieser Empfehlung steht der Epidemiologe weiterhin. »Wissen Sie denn«, entgegnet er auf die Vorwürfe, »wie viele Tests richtig gewesen wären? Ich tue es nämlich nicht.« Für die oft geforderte Überprüfung verschiedener Teststrategien fehlten in der Wirklichkeit schlicht die Möglichkeiten, so Andreasen.
Protest gegen Corona-Maßnahmen in Aarhus: Ein weiterer Lockdown wäre vielen Däninnen und Dänen nicht vermittelbar
Foto: Bo Amstrup / imago images/Ritzau ScanpixUm den gewählten Weg zu erklären, geht Andreasen gedanklich noch einmal eineinhalb Jahre zurück. Als seine Kollegen und er im Dezember 2020 um Rat gefragt worden seien, standen andere Länder bereits kurz vor strikten wochenlangen Lockdowns. Maßnahmen, die Dänemark abwenden wollte. »Alle wussten, dass sich an Weihnachten niemand daran halten würde.« Die Tests waren die Alternative.
»Wir stünden ohne die Tests heute wesentlich schlechter da«, sagt auch seine Kollegin Lone Simonsen, die vermutlich bekannteste Epidemiologin des Landes. Drei von vier Infektionen seien schließlich über die Massentests entdeckt worden. »Die Tests haben dazu beigetragen, die Pandemie unter Kontrolle zu halten, bis wir die Menschen geimpft hatten.«
Viele Diskussionen gebe es jetzt vielleicht auch deshalb, weil erfolgreiche Maßnahmen hinterher oft unnötig erschienen, glaubt Simonsen. »So ist das eben.«
Dennoch glaubt auch sie, dass die Zeit der großen Testzentren bald zu Ende gehe. In der Omikron-Welle sei es tatsächlich kaum noch möglich, Infektionen nachzuverfolgen. Zu hoch sind die Zahlen. Zugleich sei damit aber auch ein Ende der bisherigen Pandemie erkennbar, glaubt die Epidemiologin.
Bald werde das Virus anders verfolgt werden können. »Die Zukunft der Infektionsverfolgung liegt wohl im Abwasser«, sagt Simonsen. Schon jetzt liefen Erfolg versprechende Versuche in anderen Ländern. Und mit einer hohen Impfquote sei das Coronavirus auch ohne Massentests beherrschbar, beispielsweise mit Routinetests in Krankenhäusern und Altenheimen. »In ein paar Wochen haben wir es sicherlich geschafft.«
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Pandemie-Bekämpfung: Hat Dänemark zu viel getestet? - DER SPIEGEL
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