- Stefan Trobisch-Lütge leitet die „Beratungsstelle Gegenwind“ für traumatisierte SED-Opfer.
- Der promovierte Psychologe beklagt, dass psychische Leiden oft nicht als Folge der DDR-Haft anerkannt würden.
- Außerdem hätten viele Betroffene Probleme, die Corona-Regeln zu akzeptieren.
Berlin. Stefan Trobisch-Lütge leitet die Berliner „Beratungsstelle Gegenwind“. Er kümmert sich dort mit zwei anderen festangestellten und weiteren freien Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern um politisch traumatisierte Opfer der SED-Diktatur – regelmäßig alles in allem rund 200 Menschen überwiegend aus Berlin und Brandenburg, aber auch aus dem übrigen Bundesgebiet oder dem Ausland. Es kämen auch immer noch neue Betroffene dazu, sagt der 60-jährige promovierte Psychologe. Das seien häufig sehr schwere Fälle. Manchmal erschienen Angehörige und sagten: „Mein Mann dreht durch.“
Herr Trobisch-Lütge, der Mauerfall jährt sich zum 32. Mal – für die Opfer der SED-Diktatur auch?
Für einige ist der Mauerfall mittlerweile ebenfalls schon lange her. Aber für andere wird die SED-Diktatur durch eher unangenehme Ereignisse immer wieder in die Gegenwart zurückgeholt. Dabei geht es überwiegend um die Anerkennung der gesundheitlichen Langzeitfolgen von SED-Unrecht. Die Betroffenen müssen einen ewig langen Begutachtungsmarathon hinter sich bringen und machen dabei oft die Erfahrung, dass Gutachter sagen: „Jawohl, es gibt bei Ihnen eine psychische Symptomatik. Und die hat offenbar auch sehr viel mit der Haft zu tun.“ Doch die Medizinischen Dienste der Gesundheitsämter erkennen diese Schäden dann trotzdem nicht an.
Worauf führen Sie das zurück?
Zum einen war es in Deutschland schon früher ein Problem, die Folgen von staatlichem Unrecht oder Kriegsschäden anzuerkennen. Grundsätzlich gehen die zuständigen Stellen erst mal davon aus, dass sie es mit Simulanten zu tun haben, die sich eine Rente erschleichen wollen. Im Übrigen müssen wir 30 Jahre nach dem Ende der DDR feststellen, dass es immer noch Gutachter gibt, die in der ehemaligen DDR tätig waren und deshalb keinerlei Sensibilität für die Betroffenen haben – oder ihnen sagen: „Sie wussten doch, welches Risiko Sie eingingen, als Sie sich in der DDR auflehnten. Was wollen Sie überhaupt?“
Wie häufig sind solche Fälle?
Nach unseren Beobachtungen sowie nach Berichten von Kollegen und Kolleginnen aus anderen Bundesländern werden derzeit schätzungsweise mindestens drei Viertel aller Anträge abgelehnt.
Obwohl die Ursachen der Traumatisierung offensichtlich sind?
Ja. Diese Leute haben schwere Hafterfahrungen und wurden aus politischen Gründen eingesperrt. Sie können auch beschreiben, dass sie etwa in einem Transport mit einem „Barkas“ keine Luft gekriegt haben. Und dann sagt der Gutachter: „Den gab es damals noch gar nicht.“ Daran merkt man, dass Gutachter entweder nicht qualifiziert sind – oder Anträgen nicht stattgeben wollen, weil sie eine entsprechende DDR-Geschichte haben. Teilweise werden auch regelrechte Spezialisten für Simulation und Aggravation auf unsere Leute angesetzt. Sie werden mit Tests traktiert, bei denen am Ende rauskommen soll, dass sie lügen. Das ist so ziemlich das Schlimmste, was Menschen mit traumatischen Erlebnissen passieren kann. Es holt Leute mit ihrer unverarbeiteten Vergangenheit in die Gegenwart zurück.
Die Beratungsstelle existiert seit 1998. Hat sich Ihre Arbeit verändert?
Wir müssen uns als Beratungsstelle auf neue Tätigkeitsfelder konzentrieren. Denn unsere Klientel wird älter. Und wir müssen uns jetzt auch um Probleme wie Altersarmut, Einsamkeit und Pflegebedürftigkeit kümmern. Wir wollen deshalb spezifische Betreuungsformen fördern, wie etwa betreutes Einzelwohnen oder Wohngemeinschaften. Wenn Sie Betroffene mit traumatischen Erlebnissen in ein normales Altersheim stecken, dann drehen sie durch. Im Übrigen haben wir viele Betroffene, die Corona sehr speziell verarbeiten und die Regeln als Einschnitt in ihre Persönlichkeitsrechte wahrnehmen. Sie verwechseln das mit der DDR-Diktatur.
Was bedeutet das konkret?
Manche haben Schwierigkeiten, richtige und gesundheitsfördernde Maßnahmen für sich anzunehmen. Sie lösen bei ihnen Erinnerungen an staatliche Übergriffe aus. Entsprechend wehren sie sich in Verkennung der Realitäten gegen etwas, das zu ihrem Schutz da wäre. Es macht uns sehr viel Arbeit, Betroffene vom Gegenteil zu überzeugen. Aber wir arbeiten daran.
Wie?
Wir haben einige Betroffene überzeugen können, sich bei ihren ganzen Vorerkrankungen doch impfen zu lassen. Ihre Ängste stehen nämlich in keinem Verhältnis zu dem Risiko, das sie eingehen. Bei manchen kommt die Weigerung, sich impfen zu lassen, fast einer Art Selbstzerstörung gleich. Dabei müssen wir natürlich auch unsere eigene Sicherheit beachten. Bei uns gelten die 3G-Regeln. Deshalb gehen wir mit Betroffenen viel raus, machen mal eine Dampferfahrt oder gehen in den Botanischen Garten. Wir bieten auch Yoga an oder eine therapeutische Malgruppe. Wir versuchen, Traumatisierte ins normale Leben zu integrieren. Man kann mit Leuten nicht nur sitzen und reden.
Haben Sie Wünsche an die Politik?
Das Wichtigste wäre, wenn diese endlosen Begutachtungen aufhören würden und man stattdessen sagen würde: Wenn jemand in der DDR in Haft saß, dann ist mit sehr großer Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die heute bei ihm oder ihr zu beobachtende Symptomatik etwas mit diesen Vorgängen zu tun hat. Wenn da irgendwelche Quacksalber entscheiden, dann wird das nichts. Da müssen Leute hin, die sich mit dem Thema auskennen.
Psychologe: „Viele SED-Opfer verwechseln die Corona-Regeln mit der DDR-Diktatur“ - RND
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