Die Enthüllungen der früheren Facebook-Mitarbeiterin Frances Haugen sind ein globales Ereignis. Im Fernsehen und per Livestream sind die Ausführungen der Whistleblowerin über Missstände und unethisches Verhalten beim amerikanischen Tech-Konzern für jeden verfügbar. Gleiches gilt für die „Pandora Papers“, ein riesiges Datenleck, das die Geschäfte von Politikern und wirtschaftlichen Eliten in Steueroasen offenlegt. Seit Sonntag versorgen Investigativjournalisten die Öffentlichkeit mit immer mehr Informationen – die es ohne einen Hinweisgeber so nicht gegeben hätte.
Die Realität für Hinweisgeber ist selten so glamourös. Ihnen haftet das Image des Unruhestifters und Petzers an. Deckt ein Mitarbeiter Missstände oder Straftaten im eigenem Unternehmen gegenüber Behörden oder der Öffentlichkeit auf, darf er nicht automatisch mit Lob und Anerkennung rechnen. Wegen des im Raum stehenden Verrats von Geschäftsgeheimnissen droht manchem Whistleblower die Kündigung, Schadenersatzklagen oder gar ein Strafverfahren. In vielen EU-Mitgliedsstaaten ist der Schutz für Hinweisgeber nicht gesetzlich geregelt, in Deutschland ist ein Gesetz in diesem Sommer gescheitert.
Meldung in jedem dritten Betrieb
Welche Mammutaufgabe auf den Gesetzgeber und Unternehmen wartet, zeigt der am Mittwoch in München präsentierte Whisteblowing Report 2021. Eine repräsentative Umfrage der Fachhochschule Graubünden unter mehr als 1200 Unternehmen aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien und der Schweiz legt die große Verunsicherung in der Wirtschaft offen. Der „Whistleblowing-Report“ liegt der F.A.Z. vorab vor.
Jedes dritte Unternehmen meldete für das vergangene Jahr ein illegales oder ein unethisches Verhalten, also einen Verstoß gegen seine eigenen internen Verhaltensregeln, den eigenen „Code of Conduct“. In Deutschland haben 63,2 Prozent der befragten Unternehmen eine Meldestelle eingerichtet. Damit liegt man hinter Großbritannien, wo das in drei Viertel aller Unternehmen der Fall ist.
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ANMELDENDabei zeigt die Tendenz, dass Großkonzerne und international tätige Unternehmen häufiger von Missständen betroffen sind. Deutlich seltener ist das laut Bericht bei Schweizer Konzernen der Fall. Kommt es hier aber zu einem Verstoß oder einer Straftat, liegt der finanzielle Schaden deutlich höher als in den anderen Ländern.
Hoher Aufwand für 50.000 Unternehmen
Im Gegensatz zu den früheren Studien haben die Forscher auch die Auswirkungen der Corona-Pandemie einbezogen und sich auf Auswirkungen der EU-Whistleblowing-Richtlinie konzentriert. Denn für 50.000 Unternehmen in der EU, davon alleine 17.000 in Deutschland, dürften interne Meldestellen bald eine Notwendigkeit werden.
Darauf weist Achim Weick, Gründer und EQS-Chef, in seiner Eröffnungsrede auf dem Europäischen Kongress für Compliance und Ethik (ECEC) hin, in dessen Rahmen der Bericht vorgestellt wird. Der Informationsdienstleister aus München bietet Unternehmen Kapitalmarkt- und Investorinformationen an und unterstützt Unternehmen auch in der Umsetzung interner Hinweisgebersysteme.
Seit die EU-Richtlinie im Dezember 2019 verabschiedet wurde, arbeitet die Politik unter Hochdruck an der nationalen Umsetzung. Die Zeit läuft: Bis zum 17. Dezember 2021 muss ein Normenwerk vorliegen. Unternehmen mit mehr als 250 Mitarbeitenden sind der EU-Regel zufolge dazu zu verpflichten, interne Meldekanäle und wahlweise auch externe Möglichkeiten für Hinweisgeber einzurichten.
Bislang hat lediglich Dänemark die Direktive umgesetzt. Angesichts der noch unklaren Koalitionsbildung ist eine Umsetzung bis zum Stichtag für eine künftige deutsche Regierung kaum mehr zu schaffen, schätzen die Fachleute von EQS.
Von 2023 an müssen dann alle Unternehmen mit mehr als 50 Mitarbeitenden – also auch viele der deutschen kleineren und mittelständischen Unternehmen Whistlebower-Stellen einrichten. Von bis zu „300.000 Unternehmen in der EU“ spricht EQS-Chef Weick am Mittwoch. Diese müssen sich dann auf neue Ethik- und Compliance-Anforderungen vorbereiten.
„Um Wirtschaftskriminalität, Korruption und Steuerhinterziehungen in öffentlichen Institutionen und Unternehmen zu verhindern und dagegen vorgehen zu können, eignen sich insbesondere Hinweisgebersysteme und andere Compliance-Maßnahmen. Denn über ein Hinweisgebersystem können Menschen, wie etwa Mitarbeitende oder Vertraute von Politikern, Meldungen über Verstöße gegen Gesetze oder Richtlinien abgeben.“, erklärt Kai Leisering, Geschäftsführer Corporate Compliance in der EQS Group.
Rückgang in der Pandemie
Wie der Report zeigt, hinterlässt die Corona-Pandemie deutliche Spuren in der Meldeaktivität in den Unternehmen. 2020 erhielten die Unternehmen 34 Meldungen über die verschiedenen Kanäle, einen Rückgang im Vergleich zum Vorjahr. Die Schweizer Forscher führen dies auf die fehlende soziale Interaktion in Unternehmen, den beschränkten Zugang zu Informationen und fehlende Zeitressourcen zurück.
Zugleich heißt es in dem Report, dass es in Unternehmen, die Mitarbeiter entließen oder deren Mitarbeiter teilweise im Homeoffice arbeiteten, eine höhere Wahrscheinlichkeit für Missstände gab. Entsprechend mehr Meldungen gingen aus diesen Unternehmen ein.
60 Prozent der untersuchten Unternehmen verfügen mittlerweile über Stellen, an die sich Hinweisgeber wegen konkreter oder vermutete Missstände wenden können. Dabei fällt der Anteil in Frankreich geringer aus. Die dortige Justiz erachtete anonyme Meldungen von Hinweisgebern lange für unzulässig. Erst in der jüngeren Vergangenheit gab es mehr Rückendeckung für solche Bestrebungen in den Unternehmen.
Und auch wenn die Akzeptanz dem Whistleblowing Report zufolge in allen vier untersuchten Ländern wächst, hat sich bislang kaum ein Unternehmen den Anforderungen der EU-Richtlinie gestellt. „Wenige Monate vor dem Inkrafttreten der Richtlinie sind viele Unternehmen noch nicht ausreichend vorbereitet. Die Unternehmen sollten nun die verbleibende Zeit nutzen, um ein effizientes Meldesystem einzuführen, das ihre Prozesse und Kultur stärkt“, erklärt Professor Dr. Christian Hauser von der Fachhochschule Graubünden, der als Projektleiter verantwortlich für die Erstellung des Reports war.
„Viele Unternehmen sind nicht ausreichend vorbereitet“ - FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung
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