Prinzipiell gibt es drei Gründe, warum Staaten Schulden machen: um Krieg zu führen, um öffentliche Investitionen zu finanzieren oder um ungedeckte Leistungen ans Volk auszuschütten.
Historisch gesehen waren es zunächst Kriege, die Staaten in die Schulden trieben. Ab dem 19. Jahrhundert motivierten dann vor allem öffentliche Investitionen die Finanzminister zur Kreditaufnahme: Die Industrialisierung erforderte den Ausbau der öffentlichen Infrastruktur – Eisenbahnen, Fernstraßen, Häfen, Schulen, Kanalisation.
Erst im späten 20. Jahrhundert begannen Staaten damit, laufende Sozialleistungen in großem Stil auf Pump zu finanzieren. Erstmals in der Geschichte seien ab den 1970er-Jahren die öffentlichen Schulden »nicht als Folge von Kriegen oder Krisen, sondern von Forderungen an die Regierungen nach höheren Renten, besserer Krankenversorgung und anderen häufig ungedeckten Sozialleistungen« gestiegen, heißt es in einer Studie eines Forscherteams um den Berkeley-Ökonomen Barry Eichengreen.
In den wohlhabenden westlichen Ländern stiegen die Schuldenstände seit Anfang der 70er-Jahre von im Schnitt 30 Prozent auf rund 80 Prozent der Wirtschaftsleistung zur Jahrtausendwende. Eichengreen und Kollegen sprechen von der Ära der »großen Anhäufung« (»Great Accumulation«).
Es folgten zwei massive Einschläge: die Finanzkrise von 2008 und die folgende Rezession, wodurch die Staatsschulden im Schnitt auf über 100 Prozent emporschossen – und zuletzt die Coronakrise. Aktuell stehen die größeren westlichen Staaten durchschnittlich mit rund 140 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung in der Kreide, wie der Internationale Währungsfonds (IWF) gerade vorgerechnet hat.
Ähnlich sieht das Bild in den Schwellenländern aus: Dort ist das Niveau zwar niedriger, aber die Schuldenquoten haben sich im vergangenen Jahrzehnt im Schnitt verdoppelt – angesichts der zumeist schwächeren Bonität eine heikle Entwicklung.
Die Lage ist instabil. Der jüngste Fiskalbericht des IWF beschreibt eine fragile Balance. Da die Schulden weltweit am Anschlag sind, könnten Störungen – durch steigende Zinsen, ausbleibendes Wachstum oder Panikreaktionen an den Finanzmärkten – dieses Gleichgewicht gefährden und allerlei Krisen auslösen.
Die öffentliche Aufmerksamkeit mag derzeit auf die Uno-Klimakonferenz von Glasgow oder die Pandemie gerichtet sein. Doch im Hintergrund lauert eine rekordhohe Verschuldung, von der niemand so recht weiß, wie man sie in den Griff bekommen soll.
Vor diesem weltwirtschaftlichen Hintergrund finden derzeit in Berlin die Gespräche zwischen den prospektiven Ampel-Koalitionären statt. Die Finanzen sind bei den Verhandlungen die Sollbruchstelle. Ideen, wofür der Staat mehr Geld ausgeben soll, gibt es eine Menge:
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Die Klimawende erfordert gigantische Investitionen
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Eine bessere finanzielle Ausstattung einkommensschwacher Haushalte wäre wünschenswert
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Der Ausbau der digitalen Infrastruktur ist essenziell für die Wettbewerbsfähigkeit
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Eigene europäische Sicherheitsstrukturen zu schaffen ist zentral für die außenpolitische Handlungsfähigkeit
Die Frage ist, ob und wie sich diese Ansprüche seriös – das heißt: dauerhaft tragbar – finanzieren lassen. Dazu gleich unten mehr.
Die »große Anhäufung« und ihre Vorgeschichte
Es ist nicht so, dass hohe Schulden unweigerlich in Katastrophen führen. Die historische Erfahrung zeigt, dass sich auch sehr hohe Schuldenstände über lange Zeiträume bedienen und allmählich abtragen lassen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg lagen die Schulden in westlichen Ländern ähnlich hoch wie heute. Die Siegermächte Großbritannien und USA schoben enorme Verbindlichkeiten vor sich her. (Der Bundesrepublik wurden in den 50er-Jahren große Teile der Verbindlichkeiten des untergegangenen Deutschen Reiches erlassen.) Abbaubar waren diese Schulden durch eine Kombination aus hohen Wachstumsraten, ein bisschen Inflation und vorsichtiger Ausgabenpolitik. Stabile Institutionen sicherten die Glaubwürdigkeit des Arrangements, sodass die Zinsen niedrig blieben. Der Westen wuchs aus seinen Schulden heraus, und zwar rapide: In den ersten zweieinhalb Nachkriegsjahrzehnten gingen die Verbindlichkeiten in Relation zum Bruttoinlandsprodukt um rund 100 Prozentpunkte zurück.
Dann begann eine neue Ära. Die Zeit der hohen Produktivitätszuwächse war vorbei. Die Ölschocks der 1970er-Jahre schürten die Inflation und offenbarten die Verwundbarkeit des Westens. Es waren unruhige Zeiten: Protestbewegungen, getragen durch eine junge Nachkriegsgeneration, forderten Veränderungen. Die Staaten beiderseits des Atlantiks versuchten, die Gesellschaften mit einer massiven Ausweitung der Ausgaben zu befrieden. Entsprechend stiegen die Verschuldungsquoten abermals – die Ära der »großen Anhäufung« begann.
Die reichen Volkswirtschaften haben ihren demografischen Höhepunkt bereits 2010 überschritten
Rückblickend muss man sagen, dass die Nachkriegsjahrzehnte eine ökonomisch ausgesprochen günstige Phase für den Westen waren. Der Krieg und seine Zerstörungen hatte enormen Nachholbedarf hinterlassen. Die Demografie war günstig: Die Gesellschaften waren jung, von Problemen bei der Finanzierung der Rente war noch nicht die Rede. Der internationale Austausch intensivierte sich, Handelsbarrieren wurden nach und nach gesenkt. Eine stabile internationale Ordnung – mit den USA als westlicher Hegemonialmacht im Zentrum – schuf den politischen Rahmen, innerhalb dessen sich Prosperität entwickeln konnte.
Die aktuelle Lage ist deutlich ungemütlicher. Die Globalisierung ist auf dem Rückzug, die demografische Entwicklung wird zusehends ungünstiger: Weltweit geht inzwischen der Anteil der Menschen im arbeitsfähigen Alter zurück. Die reichen Volkswirtschaften haben ihren demografischen Höhepunkt bereits im Jahr 2010 überschritten; seither sinkt der Bevölkerungsanteil der 15- bis 64-Jährigen im Schnitt. In Ländern mit mittlerem Einkommensniveau beginnt diese Entwicklung derzeit, wie aus den Uno-Bevölkerungsprojektionen hervorgeht. Der Versorgung älterer Bürger mit Renten und Gesundheitsdiensten wird teurer.
Zugleich erfordert der Klimawandel ein rapides Umsteuern, verbunden mit gigantischen Investitionen, insbesondere in die Energie- und die Verkehrsinfrastruktur, aber auch stattliche internationale Transfers, um die Folgen der Erwärmung für arme Länder zu lindern.
Mit anderen Worten: Die Ansprüche an die öffentlichen Haushalte steigen, während das Wachstum zurückgeht und die Verbindlichkeiten von einer tendenziell schrumpfenden Zahl von Menschen im produktiven Alter getragen werden müssen. Aus den Schulden herauszuwachsen wird unter diesen Bedingungen kaum möglich sein. Zugleich brauchen die Staaten finanzielle Spielräume, um den aktuellen Herausforderungen begegnen zu können. Was nun?
Die Alternativen: Inflation oder Insolvenz?
Neben Wachstum gibt es zwei weitere Ansätze zur Schuldenreduktion: Entwertung (durch Inflation und Abwertung) und Restrukturierung (Schuldenschnitte). Ich vermute, wir werden eine Mischung dieser Strategien sehen. In wohlhabenderen Ländern werden die Notenbanken versuchen, die Inflation kontrolliert laufen zu lassen und die Zinsen niedrig zu halten (achten Sie Mittwoch auf die Entscheidung der US-Notenbanken Fed), während in hoch verschuldeten ärmeren Ländern Umschuldungen und »Haircuts« die Schuldenlasten erträglicher machen; letzteres fordert etwa eine Studie der grünennahen Böll-Stiftung zum Thema.
Tatsächlich ist das längst Realität. Die Regierungen in den reichen Ländern versuchen mit aller Macht, das Wachstum anzuschieben – siehe die gigantischen Ausgabenprogramme beiderseits des Atlantiks in diesem und im vorigen Jahr. Die Notenbanken geben sich angesichts steigender Inflationsraten entspannt. Arme, überschuldete Länder sollen durch einen Forderungsverzicht ihrer Gläubiger wieder manövrierfähig werden.
Aber es braucht noch mehr: ein verändertes Verständnis davon, was der Staat leisten kann – und soll. Das gilt auch für Deutschland, wo derzeit die möglichen Koalitionäre um die Finanzen ringen.
Wenn der Sparsame der Dumme ist
Die Bundesrepublik ist mit einer Schuldenquote von knapp über 70 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ziemlich solide finanziert. Der IWF traut Deutschland sogar zu, in den kommenden fünf Jahren die Quote wieder auf 60 Prozent zu senken. In den übrigen G7-Staaten liegen die Verbindlichkeiten deutlich höher, ausnahmslos über 100 Prozent, teils gar über 200 Prozent (Japan), während die Quoten tendenziell weiter steigen. Erst mal keine schlechte Ausgangslage für eine etwaige Ampel-Koalition.
Es ist nur so: Wenn der Rest der Welt weiter Schulden anhäuft und entsprechend kaum anders kann, als sich mit Inflation und künstlich niedrigen Realzinsen finanzpolitisch durchzulavieren, ist strikte deutsche Haushaltsdisziplin nach dem Schwarze-Null-Motto der »Schuldenbremse« vielleicht nicht die beste Strategie. Wir hängen mit drin, ob wir wollen oder nicht. Deutschland ist keine Insel der Soliden, sondern Teil einer hoch verschuldeten Weltwirtschaft. Wer spart, könnte am Ende als der Dumme dastehen.
Um nicht missverstanden zu werden: Dies ist kein Plädoyer für eine Nach-uns-die-Sintflut-Finanzpolitik, sondern für vernünftige Abwägungen. Wenn es gelänge, die günstigen Finanzierungsbedingungen zu nutzen, um öffentliche Investitionen zu finanzieren, die in der Zukunft positive volkswirtschaftliche Renditen abwerfen, wäre das sinnvoll.
Noch besser wäre es freilich, das Update der Energie- und Dateninfrastruktur durch private Investitionen zu finanzieren. Geld ist schließlich genug da: Statt sich weiter in einen flächendeckenden Bauboom hineinzusteigern, sollten Investitionen in produktivere Projekte fließen. Der Staat sollte dafür die Rahmenbedingungen schaffen, aber selbst möglichst wenig öffentliche Gelder in die Hand nehmen. Denn etwaige finanzielle Spielräume werden gebraucht für Aufgaben, die sich kaum privat finanzieren lassen – insbesondere Bildung und Forschung, aber auch Verteidigung und Sicherheit.
Vor allem muss die künftige Regierungsmehrheit verhindern, dass neue Schulden gemacht werden, um den Bundeszuschuss zur gesetzlichen Rente zu decken. Schon jetzt fließen mehr als 100 Milliarden Euro jährlich, ein Drittel des Bundeshaushalts, an die Ruheständler. Der Betrag wird rapide steigen, wenn die Ampelianer tatsächlich ihr Sondierungsversprechen wahr machen, Rentenniveau, Renteneintrittsalter und Rentenbeiträge konstant zu halten. Das ist – sorry – populistische Finanzpolitik. Statt das Rentenalter an die weiter steigende Lebenserwartung zu koppeln und damit die demografische Wende abzumildern, steuern wir auf eine Situation zu, in der steigende Bundeszuschüsse andere Ausgaben verdrängen – und/oder die öffentlichen Verbindlichkeiten in die Höhe treiben.
Neue Schulden für die Rente – das wäre exakt die Logik, die in die Ära der »großen Anhäufung« geführt hat.
Die wichtigsten Wirtschaftstermine der bevorstehenden Woche
Glasgow – Beim Retten der Welt – Erster regulärer Tag der Uno-Klimakonferenz COP26.
Berichtssaison I – Geschäftszahlen von Ryanair, Avis Budget.
Berichtssaison II – Geschäftszahlen von Fresenius, Fresenius Medical, HelloFresh, Conoco, A.P. Moller-Maersk, Ferrari, Pfizer, Lyft, Amgen, Adecco, BP, Standard Chartered, Mondelez.
Washington – Warten auf die Bremsung – Der geldpolitische Ausschuss der US-Notenbank Fed entscheidet über die weitere Geldpolitik.
Luxemburg – Jobs made in Europe – Die Statistikbehörde Eurostat veröffentlicht Kennzahlen zur Arbeitslosigkeit.
Berichtssaison III – Geschäftszahlen von Lufthansa, BMW, KfW, Zalando, Vestas, Qiagen, Intesa Sanpaolo, Novo Nordisk, Endesa, Suez, New York Times.
Wien – Drehen am Ölhahn – Die Opec und ihre Partner (Russland etc.) sprechen über die angespannte Marktlage und die weitere Förderpolitik.
Berichtssaison IV – Geschäftszahlen von Deutsche Post, Vonovia, Bertelsmann, Commerzbank, Euronext, ING, Moderna, Brenntag, Aixtron, Telefonica, Simens Healthineers, Evonik, Lanxess, Hannover Rück, Hugo Boss, Pro7SAT1, AIG, Veolia Environnement, Societe Generale, Banca Monte dei Paschi di Siena, Credit Suisse, AXA.
Washington – Dropping out – Die US-Regierung veröffentlicht Zahlen zu Beschäftigung. Große Frage: Wann steigt die Zahl der Erwerbstätigen wieder? Nach der Corona-Krise waren viele Beschäftigte aus der Erwerbsbevölkerung ausgeschieden.
Berichtssaison V – Geschäftszahlen von Uniper, Gea, Rheinmetall, Siemens Gamesa.
Marode Staatsfinanzen: Wie viele Schulden können wir uns eigentlich leisten? - DER SPIEGEL
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