Für Überraschungen sind Erstwähler immer gut. Doch im Bundestagswahlkampf 2021 schnappen besonders viele Beobachter erstaunt nach Luft – selbst die Wahlgewinner, die die neuen Zuneigungsbekundungen selbst kaum fassen können. Ganz vorn in der Wählergunst der Postpubertierenden lagen nämlich nicht etwa die Grünen, wie sich angesichts des Massenauflaufs der „Fridays-for-Future“-Bewegung zwei Tage vor dem Urnengang noch vermuten ließ. Diesmal hat die FDP das Rennen gemacht: Die Liberalen konnten 23 Prozent der Stimmen an sich ziehen, und damit einen Prozentpunkt mehr als die Grünen.
Noch vor kurzem sah es nicht danach aus. In der Sonntagsfrage des Instituts INSA gaben zwar auch 21 Prozent der Unter-30-Jährigen an, die FDP wählen zu wollen, aber die Grünen schnitten mit 30 Prozent noch deutlich besser ab. Und die Jugendwahl „U18“, an der sich rund 280.000 Jugendliche beteiligten, lieferte für die FDP nur ein durchschnittliches Ergebnis: In dieser Alternativ-Wahl, die im Juni an vielen deutschen Schulen durchgeführt wurde, kamen die Liberalen auf rund 12 Prozent.
„Dieser enorme Schub der FDP ist eine absolute Überraschung“, sagt der Soziologe Klaus Hurrelmann, einer der bekanntesten Jugendforscher Deutschlands. Grund dafür sind seiner Ansicht nach keinesfalls finanzielle Aspekte, wie jetzt in den sozialen Medien schnell vermutet wird. Den Ruf einer Klientelpartei für gut verdienende Apotheker, Juristen und Hoteliers sind die Liberalen offenbar immer noch nicht ganz los geworden. Hurrelmann hat dagegen eine ganz andere Erklärung: Er sieht in dem Wahlergebnis eine Reaktion auf den Corona-Lockdown. „Nur so kann ich mir diesen Schub erklären“, sagt er. „Wir wissen aus Studien, dass sich die jüngere Generation durch die Corona-Krise stark benachteiligt fühlt.“
Warum das so ist, muss man nicht erst groß erklären: Schüler und Studenten waren selbst kaum gefährdet, durch das Virus stark zu erkranken. Sie mussten aber eine große Disziplin an den Tag legen, um die älteren Generationen zu schützen. Über Monate wurden sie im Digitalunterricht gehalten, während die Elterngeneration teils weiter im Büro arbeiten durfte. „Unter den jüngeren Leuten heißt es jetzt: ‚Wir wollen unsere Freiheit zurück‘“, sagt Hurrelmann. Die FDP sei die Partei gewesen, die sich in der ganzen Zeit am klarsten gegen die Lockdown-Politik der Bundesregierung positioniert hat, ohne den Boden der verfassungsrechtlichen Ordnung zu verlassen. „Das wird von den Erstwählern jetzt belohnt.“ Sie stellen rund 4,6 Prozent der Wahlberechtigten in Deutschland.
Jüngere interessieren sich auch für die Rentenpolitik
Grundsätzlich ist die Abweichung vom Mainstream keine Eigenheit in der aktuellen Bundestagswahl. So stellte der Berliner Politikprofessor Wolfgang Merkel fest: „Es ist schon länger ein Muster, dass junge Menschen Parteien präferieren, die nicht für die Konformität des Establishments stehen.“ Dieses Verhalten kann man allerdings auch als Warnung an die große Koalition verstehen: Union und SPD „haben den jungen Leuten nicht mehr besonders viel zu sagen“, sagte Peter Matuschek, Leiter der Politik- und Sozialforschung von Forsa, zur Vorstellung der Wahlanalyse am Montag in Berlin. Bisher konnten davon immer die Grünen profitieren. Allerdings spielt bei den Erstwählern nicht nur die Klimapolitik eine große Rolle; den führenden Meinungsforschungsinstituten zufolge interessieren sie sich auch für die Renten- und Sozialpolitik.
Neben der konsequenten Rebellion gegen die Corona-Maßnahmen könnte auch das eine Rolle gespielt haben. Nach Ansicht von Hurrelmann war für das junge Wahlvolk zudem ausschlaggebend, dass sich die FDP mehr als andere als „moderne und digitale Partei“ präsentiert, für die Tiktok und Instagram kein völliges Neuland ist. Umgekehrt haben die Wähler in der Generation keine Probleme mit einem anderen Aspekt, der den Liberalen häufig vorgeworfen wird: Mag die Parteiführung oft selbstverliebt daherkommen, viele junge Männer seien das schließlich auch, sagt der emeritierte Soziologie-Professor der Universität Bielefeld, der nun an der Berliner Hertie School lehrt.
Nun muss sich allerdings noch erweisen, ob die neue Beliebtheit der Liberalen von Dauer ist – oder ob sie nur einem „saisonalen Effekt“ geschuldet ist, der nach der Corona-Krise wieder verpufft. Hurrelmann wagt da keine Prognose – anders als bei den Grünen. Die seien schließlich schon länger bei den jüngeren Wählern beliebt. Außerdem zeige sich der Wunsch nach einer nachhaltigen Politik auch in der anhaltenden Nachfrage der „Fridays-for-Future“-Bewegung. Das fehlt der FDP noch.
Warum so viele Erstwähler für die FDP stimmten - FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung
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