Lübeck. Dr. Hertha Nathorff war eine der wenigen deutschen Frauen, die es zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts in die Medizin schafften. Nach Approbation und Promotion leitete sie ab 1923 die Säuglings- und Entbindungsstation in Berlin-Charlottenburg und baute später zusammen mit ihrem Mann Erich eine Praxis in der Hauptstadt auf.
Als Jüdin wurde ihr die Arbeit ab 1933 zunehmend erschwert, 1938 musste sie aufgeben – die Nationalsozialisten entzogen ihr die Approbation. Sie konnte auswandern und starb 60 Jahre nach der Machtergreifung der Nazis in New York.
Die nüchterne Aufzählung solcher Fakten kann nicht widerspiegeln, was es für Hertha Nathorff bedeutete, in Nazi-Deutschland zu leben und zu arbeiten. Ihr Tagebuch dagegen beschreibt eindringlich, was sie durchmachen musste: Die anfänglichen Repressalien durch behördliche Anordnungen, die zunehmende Unterdrückung, das Ausbleiben arischer Patienten, die Angst um die berufliche Zukunft und schließlich um die nackte Existenz.
Schwierige Bedingungen im Exil
Die bloßen Fakten machen auch nicht deutlich, was es bedeutete, im Exil unter völlig neuen, oft extrem schwierigen Bedingungen zu leben, wie Dr. Sandra Blumenthal berichtet. Die Berliner Ärztin ist Sprecherin der Sektion Fortbildung bei der Deutschen Gesellschaft für Familien- und Allgemeinmedizin (DEGAM). Sie kennt nicht nur das als Buch veröffentlichte Tagebuch, sondern hat zusammen mit anderen Initiatoren dafür gesorgt, dass es über das Projekt „Das leere Sprechzimmer“ künftig zahlreichen Medizinern in Deutschland bekannt wird.
Die DEGAM widmete sich dem Projekt am 17. September bei ihrem Jahreskongress in Lübeck mit einem Symposium und startete damit eine geplante Wanderausstellung, mit der auch bei künftigen DEGAM-Kongressen in ganz Deutschland in abgewandelter Form auf die Arbeit und das Leben verfolgter Ärzte aufmerksam gemacht wird.
Für das verlassene Sprechzimmer wird bei jedem Kongress ein Raum reserviert. Die Szenerie ist karg: Ein Schreibtisch, zwei Stühle, ein abgelegter Kittel, zugeklappte Fachliteratur, ein leeres Glas und ein Koffer – es bleibt dem Betrachter überlassen, sich eigene Fragen zu stellen. Daneben lief in Lübeck ein Film, in dem Medizinstudierende aus dem Tagebuch vorlesen und damit das Schicksal von Hertha Nathorff erlebbar machen.
„Erschlagen von der Nahbarkeit des Leids“
Für DEGAM-Präsident Professor Martin Scherer brauchte es „keine Sekunde des Nachdenkens“, dass sich seine Gesellschaft diesem Thema widmet – obwohl sie als eine erst in der Bundesrepublik gegründete Organisation keinen unmittelbaren „Aufarbeitungsauftrag“ hat. Für Scherer gehört es aber zur „sozialen Gesundheit“, sich dennoch mit dem Thema auseinanderzusetzen und daran mitzuwirken, dass sich Vergleichbares nicht wiederholt oder erst „salonfähig“ wird. Der Film löste bei vielen Allgemeinärzten, die ihn in Lübeck gesehen haben, ambivalente Gefühle aus.
Scherer drückte es so aus: „Überwältigt und erschlagen von der Nahbarkeit des Leids“, das frühere Kollegen wie Nathorff erfahren haben. Zugleich aber auch angefasst von der Ästhetik und dem positiven Geist des Projektes, in das sich auch viele angehende Allgemeinmediziner eingebracht haben.
Viele jüdische Ärzte wurden Opfer der Nationalsozialisten, viele nicht-jüdische Ärzte zu Mitwissern, Mitläufern und Tätern. Auch darauf wies Blumenthal bei der Vorstellung des Projektes in Lübeck hin. Die jüdischen Kollegen wurden von ihnen gemieden, ausgeschlossen, denunziert.
Mit großer Härte gegen jüdische Mitglieder
Die Verantwortlichen in den ärztlichen Organisationen wie etwa Hartmannbund und Kassenärztliche Vereinigung gingen bisweilen mit noch größerer Härte gegen jüdische Mitglieder vor, als es von den Behörden erwartet wurde. Und es gab die Kollegen, die sich durch die Übernahme jüdischer Praxen schamlos bereicherten. Der Terror gegen die jüdischen Ärzte in Deutschland war unmittelbar nach der Machtergreifung so greifbar, betonte Blumenthal in Lübeck, dass kein Arzt dies übersehen konnte.
Vom leeren Sprechzimmer erhofft sie sich einen Ort des Austauschs, mit dem neben den verfolgten jüdischen Ärzte auch auf alle anderen einst aktiven Ärzte erinnert wird, die wegen des nationalsozialistischen Terrors gar nicht, und wenn, dann stark gezeichnet, zurückkehrten.
Für Hertha Nathorff gab es dieses Zurück nicht. Sie starb verarmt und verbittert in New York. Als Ärztin hat sie nach dem Entzug ihrer Approbation nie wieder gearbeitet. Blumenthal: „Sie hat überlebt. Aber das Leben, das sie sich aufgebaut hatte, haben die Nazis unwiderruflich ausgelöscht.“
Viele Ärzte wurden zu Mitwissern, Mitläufern und Tätern - Ärzte Zeitung
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