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Sunday, September 19, 2021

Brexit: Offene Jobs, fehlende Fernfahrer und viele Schweine - ZEIT ONLINE

Verdreckte Abwässer, frustrierte Schweinezüchter und leere Regale in den Supermärkten: Die Corona-Pandemie und der Brexit haben im Vereinigten Königreich ungeahnt starke Auswirkungen. Wir erklären die Krise in Großbritannien anhand ausgewählter Zahlen.

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1.000.000 offene Stellen

Besonders auffällig ist die Krise bei der Zahl der offenen Stellen. Eine Million meldete das britische Office For National Statistics (ONS) für das dritte Quartal in diesem Jahr. So viele unbesetzte Arbeitsplätze hat es in den vergangenen 20 Jahren nicht gegeben. Der Grund: Die Wirtschaft legt wieder zu und Unternehmen holen mit der Produktion nach. Zwar sind wieder genauso viele Personen beschäftigt wie vor der Pandemie. Aber nach Angaben des ONS melden nahezu alle Branchen offene Stellen, oft in Rekordhöhe, vor allem das Hotel- und Gaststättengewerbe und die Lebensmittelproduktion.

Die Klage ist nahezu überall die Gleiche: Viel EU-Personal ist während der Pandemie in die Heimat geflohen und angesichts der seit dem Brexit erschwerten Visasituation nicht mehr zurückgekehrt. EU-Arbeitskräfte, die in Großbritannien geblieben sind, haben in besser bezahlte Berufe gewechselt. So herrscht Not an Billigarbeitskräften.

Die Konsequenz: Das Innenministerium stellte im ersten Halbjahr knapp 20.000 Visa für Saisonarbeiter aus, davon fast 15.000 für Personen aus der Ukraine, die anderen vor allem aus Russland, Belarus und Moldawien. Ein Trupp von 100 Arbeitern zum Blaubeerenpflücken reiste gar aus Nepal an. Der Landwirtschaftsverband, die National Farmers Union, klagt, dass trotzdem 500.000 Stellen unbesetzt seien und die Regierung mehr Visa an EU-Mitarbeiter und -Mitarbeiterinnen vergeben solle.

schweine

70.000 nicht geschlachtete Schweine

Die Schlachthöfe vermissen ihre ehemaligen rumänischen, polnischen und bulgarischen Mitarbeiter. Zusätzlich zum britischen Personal, das sich aufgrund der Corona-Pandemie krankmeldete, fehlen manchen Schlachthöfen bis zu 25 Prozent ihrer qualifizierten und hart arbeitenden Belegschaft. Der Verband der Schweinezüchter, die National Pig Association (NPA), warnte, manche Schlachthöfe hätten ihre Arbeit um 25 Prozent einschränken müssen. In britischen Ställen werden nun 70.000 Schweine durchgefüttert, die eigentlich längst hätten geschlachtet werden müssen. In den Supermärkten fehlt die Wurst.

Der Verband fordert, das Innenministerium solle mehr EU-Visa erteilen. Das will Innenministerin Priti Patel jedoch nicht. Erstens sei Schlachten kein Saisongeschäft. Zweitens hat Patel das britische Visasystem auf sogenannte hochqualifizierte und gut bezahlte Fachkräfte ausgerichtet. Dazu gehören Schlachter nach Lesart der britischen Regierung nicht. Auf die Liste der Mangelberufe, für die Visa ausgestellt werden, sind die Schlachthöfe auch nicht vorgerückt. Das Gleiche gilt für Lastwagenfahrer.

lkw

100.000 fehlende Fernfahrer

Vor der Corona-Krise (und dem Brexit) beschäftige die britische Wirtschaft nach Angaben des Fachverbandes, der Road Haulage Association (RHA), 600.000 Lkw-Berufskraftfahrer. In einem Brief an Premierminister Boris Johnson beschwerte sich der Verband kürzlich, dass mittlerweile 100.000 dieser Fahrer fehlten. Der Grund: Viele EU-Speditionen fahren nicht mehr nach Großbritannien. Wartezeiten an der Grenze sind für sie ein Verlustgeschäft. Zudem kehren Lastwagen seit dem Brexit aus Großbritannien meist leer zurück, um Papierkrieg und Wartezeiten beim Zoll auf der Rückfahrt zu vermeiden.

Und: Seit dem Brexit ist die Möglichkeit der sogenannten Kabotage erschwert. Das bedeutet, dass EU-Speditionen innerhalb Großbritanniens keine Ware mehr von A nach B transportieren dürfen. Damit lohnt sich das Geschäft für viele EU-Speditionen nicht mehr. Die britische Regierung pocht darauf, die Wirtschaft solle britische Fahrer ausbilden. Das aber ist nicht so leicht.

schein

25.000 weniger Führerscheine

Normalerweise bestehen jedes Jahr etwa 40.000 Fahrer den britischen Führerschein zum Fernfahrer. Doch sind viele Fahrer während der Pandemie in Pension gegangen und die Jugend rückt nicht nach – sie sitzt nicht mehr gern tagelang hinterm Steuer. Zudem hatte das Kraftfahrzeugamt während der Pandemie die Fahrprüfungen eingestellt. Die Konsequenz: Im vergangenen Jahr bestanden nur 15.000 Menschen den Lkw-Führerschein, 25.000 weniger als in einem normalen Jahr, klagt der Verband RHA.

Der britische Transportminister Grant Shapps hat jetzt die Führerscheinprüfung für Lastwagenfahrer erleichtert, damit wieder mehr Leute den Beruf ergreifen. In der Konsequenz heißt das: Das Rückwärtsfahren und Rangieren mit Hängern wird nicht mehr geprüft. In Großbritannien gilt jetzt das Motto: Auf der Autobahn geht es ja ohnehin nur geradeaus.

ikea

1.000 IKEA-Produkte haben Lieferprobleme.

Gibt es keine Lkw-Fahrer, fehlen in den Regalen die Waren. Auf Twitter reichen die Britinnen bestürzt Videos ihrer spärlich bestückten Supermärkte herum. Viel Ware hängt – wie in anderen Ländern auch – in Häfen und Containern aus Asien fest. Doch im Vereinigten Königreich stockt der Transport zusätzlich bei der Einfuhr aus Rotterdam. Rohstoffe fehlen, Baumaterial ist Mangelware, Produktionsengpässe machen Schlagzeilen. Das Möbelhaus IKEA allein hat bei 1.000 Produkten Lieferschwierigkeiten.

Lebensmittel und Frischware kommen aus der EU verzögert oder gar nicht mehr an. In den Supermärkten ist das Verfallsdatum bei Ankunft der Ware oft schon abgelaufen, können die Produkte nicht mehr ins Regal. "Tomaten? Die haben wir schon drei Tage nicht mehr bekommen", murmelt eine Mitarbeiterin bei Sainsbury’s in London. McDonald’s konnte zeitweise keine Milkshakes ausschenken, die Kette Nando’s warnte Kunden vor dem "Albtraum" zeitweilig 50 Restaurants wegen Lieferschwierigkeiten schließen zu müssen, selbst Haribo hatte Probleme.

Aus Sorge, dass die Lebensmittelversorgung noch mehr stocken könnte und das Brexit-Desaster allzu offensichtlich wird, hat die britische Regierung die eigentlich ab Oktober fälligen Grenzkontrollen von EU-Lebensmitteln tierischen Ursprungs bis Mitte nächsten Jahres verschoben. Ian Wright, der Vorsitzende des Fachverbandes, der Food and Drinks Federation, sagt: "Die Zeiten, in denen alle Produkte immer im Regal standen, sind vorbei. Das kommt auch nicht wieder."  

Selbst die Kläranlagen kämpfen mit dem Produktmangel. Bei der Lieferung der für die Reinigung von Abwässern notwendigen Sulfate kommt es zu Schwierigkeiten. Die britische Regierung hat daher verfügt, dass Kläranlagen auf die sonst notwendige Drittreinigung verzichten und Abwässer entsprechend weniger gereinigt einleiten dürfen. Aber zum Schwimmen in Flüssen wird es ja jetzt ohnehin zu kalt.

bluttest

25 Prozent weniger Bluttests

Ohne Schweineschnitzel lässt es sich problemlos leben – ohne Bluttests jedoch nicht. Vor allem nicht, wenn die Entwicklung einer Krankheit kontrolliert werden muss. Beim britischen Ärzteverband, der British Medical Association (BMA), war man deswegen aufgebracht, als die Regierung den NHS-Gesundheitssektor angewiesen hatte, alle "unnötigen" Bluttests bis Mitte September auszusetzen. Manche Krankenhäuser sollen bis zu 25 Prozent der Tests ausfallen lassen, berichtet der Guardian. Der Grund: Der weitaus größte Teil der Reagenzgläser für Bluttests wird von der britischen Gesellschaft Becton Dickinson geliefert und da hapert es – nach der Rekordnachfrage während der Corona-Pandemie – mit der Produktion und dem Versand.

Schwierigkeiten mit Materiallieferungen, hohe Preisen, die Grenzabfertigung beim Import sowie die neuen Transportprobleme haben zu Lieferengpässen geführt. Gleichzeitig gibt es innerhalb Großbritanniens nicht genug Vorräte, die Lagervorräte sind auf den niedrigsten Stand seit 1983 gesunken, klagt der britische Industrieverband CBI. Und so müssen Arztpraxen ihre Patienten jetzt abwimmeln. Bluttests für Allergien, Vitamin-D-Mangel und Hormontests für den Kinderwunsch gibt es erst mal gar nicht mehr. Andere Bluttests finden nur statt, wenn sie unbedingt notwendig sind.

"Man kann ja verstehen, dass es sich um eine Notsituation handelt", sagt der Vorsitzende des Ärzteverbandes BMA, Chaand Nagpaul. "Aber es ist extrem beunruhigend, dass es keine nationale Vorausplanung dafür gab, dass das Gesundheitssystem von einem einzigen Produzenten so abhängig ist." Außerdem solle es die Regierung nicht den Ärzten überlassen, die Notsituation zu erklären, sondern selber mal was sagen. "In einer Zeit, wo wir Ärzte extrem zu tun haben, ist es unakzeptabel, dass wir jetzt mit dem Frust über eine Situation konfrontiert werden, die wir überhaupt nicht zu verantworten haben."

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