Die Schweiz hatte auf das Ende der Pandemie gehofft. Jetzt ist das Infektionsgeschehen hoch, die Kliniken laufen voll. Nun gibt es scharfe Forderungen.
Die Nachbarn schauten leicht verwundert auf die Schweiz. Schon früh – noch während der dritten Coronavirus-Welle – begann die Regierung, die Auflagen zu lockern. Jetzt ist die Zahl der Neuinfektionen rasant gestiegen. Und die Schweizer Kliniken sind bereits wieder am Rande der Belastungsgrenze. Dies berichtet unter anderem die Zeitung „Blick“. Einige mussten demnach schon Patienten in andere Krankenhäuser verlegen, da die Intensivstationen voll seien.
Ein Grund: In keinem Land Westeuropas lassen sich weniger Menschen eine Spritze gegen das Virus geben – die Quote der vollständig geimpften Menschen in der Schweiz liegt bei nur 51 Prozent. In Deutschland, wo die Impfkampagne aktuell stockt, sind es 62 Prozent. In dem Land mit seinen rund 8,5 Millionen Einwohnern ist nun eine heftige Debatte entbrannt, ob bei etwaigen Triage-Verfahren der Impfstatus ein Kriterium sein soll.
Wie der „Blick“ schreibt, seien neuesten offiziellen Zahlen zufolge die Intensivstationen landesweit zu 80,3 Prozent ausgelastet. Gut ein Drittel der Betten seien mit Covid-19-Patienten besetzt – fast alle seien ungeimpft. Stiegen die Zahlen weiter an, drohe eine Überlastung der Kliniken, warnte der Bundesrat am Freitag im Anschluss an ein Treffen mit den Parteispitzen.
Anfang der letzten Augustwoche hatte das Schweizer Bundesamt für Gesundheit (BAG) die Situation als besorgniserregend eingestuft. „Wir müssen die aktuelle Lage als vierte Welle bezeichnen“, sagt Patrick Mathys, Leiter des Bereichs Krisenbewältigung und internationale Zusammenarbeit im BAG.
Die Zahl der neuen Erkrankungen und Krankenhauseinlieferungen bewege sich auf einem Niveau, wie man es bei der dritten Welle gesehen habe, und die Situation auf den Intensivstationen sei als angespannt einzustufen. Eine Entspannung sei angesichts der stagnierenden Impfzahlen nicht absehbar. „Die große Mehrheit der hospitalisierten Personen ist ungeimpft“, erklärte Mathys.
Stephan Jakob, Chef der Intensivmedizin am Berner Inselspital, sagte dem „Blick“-Bericht zufolge: „Eine Intensivstation darf nie zu 100 Prozent ausgelastet werden.“ 70 Prozent aller Patienten in der Klinik kämen als Notfälle, für diese müsse man Kapazitäten freihalten. Die Auslastung einer Intensivstation dürfe bei maximal 75 Prozent liegen.
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Trotz des hohen Infektionsgeschehen entschloss sich die Regierung vor wenigen Tagen zunächst, die Corona-Auflagen doch nicht zu verschärfen. „Die Zahl der Spitaleinweisungen von Corona-Patientinnen und -Patienten ist weiterhin hoch, hat in der letzten Woche aber nicht mehr zugenommen“, teilte die Regierung am Mittwoch mit. Es zeichne sich eine Stabilisierung der Infektionszahlen ab. Zudem ließen sich wieder mehr Menschen impfen. Deshalb werde von einer Verschärfung vorerst abgesehen.
Nun schwenkt die Regierung offenbar erneut um. Wie die „Sonntagszeitung“ berichtet, soll es nun mehr Auflagen geben – ähnlich der 3G-Regel in Deutschland. Am Mittwoch soll die sogenannte Covid-Zertifikatspflicht ausgeweitet werden. Der Schweizer Bundesrat werde dies dann beschließen. Gesundheitsminister Dies Alain Berset habe dies beim Treffen mit den Spitzen der Bundesratsparteien angekündigt, heißt es in dem Bericht.
Die Kantone fordern schon seit längerem, dass der Zugang zu Restaurants, Fitnesscenter, Kinos oder Theatern nur noch Geimpften, negativ Getesteten und Genesenen erlaubt sein soll. Berset forderte dem Bericht zufolge in einem Brief mit Unterstützung der Parteispitzen die Kantone auf, mehr Klinikbetten bereitzustellen und beim Impfen voranzukommen. Der Bundesrat hofft demnach, dass mit zusätzlichen mobilen Einsätzen die Zahl der Geimpften stark erhöht werden könnte.
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Die Sieben-Tage-Inzidenz lag in der Schweiz am Sonntag bei etwa 170. Zum Vergleich: In Deutschland betrug die Zahl der Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in sieben Tagen dem Robert Koch-Institut zufolge am Sonntagmorgen 83.
Insgesamt verzeichnet das Alpenland bisher 11.011 Covid-19-Tote und 785.696 Infektionen. Bezogen auf eine Million Einwohner gab es in der Schweiz bisher 1293 Covid-19-Todesfälle und 92.255 bestätigte Fälle. Zum Vergleich:
Covid-19-Tote/bestätigte Infektionen pro Million Einwohner (Quelle Johns-Hopkins-Universität):
- Italien 2142/75.559
- Frankreich 1722/103.167
- Österreich 1220/78.572
- Deutschland 1114/48.414
Die aus Deutschland stammende Virologin Isabella Eckerle verwies am Sonntag auf einen Tweet des Journalisten Marc Brupbacher vom Schweizer „Tages-Anzeiger“, der geschrieben hatte: „Schweizer Intensivstationen sind in Westeuropa am stärksten mit Covid-Patienten ausgelastet.“
Eckerle, die die Abteilung Infektionskrankheiten an den Universitätskliniken in Genf leitet, kommentierte dies mit dem Hinweis darauf, dass nur 51 Prozent der Bürgerinnen und Bürger in der Schweiz vollständig geimpft seien und schrieb: „Kein Wille, die 4. Welle einzudämmen. Schulbeginn & die ersten kalten Tage werden die Situation bald noch weiter anheizen.“
Zuvor hatten schon andere Experten im Land Alarm geschlagen. „Was braucht es denn noch?“, fragte der Berner Impfchef Gregor Kaczala (46) am Freitag, so der „Blick“. „Es werden nicht mehr nur über 65-Jährige an Covid sterben. Es werden Väter, Mütter und Sportskameraden sein.“ Das seien unnötige und vermeidbare Verluste. Mit dieser Einstellung würden steigende Zahlen und eine weitere Belastung der Spitäler nicht vermeidbar sein. „Ich hoffe, wir müssen nicht Triage-Entscheidungen treffen“, sagte er weiter. „Sollte es so sein, befürchte ich schlechtere Karten für Nichtgeimpfte.“
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Der Kinder- und Jugendarzt führte aus, dass im Falle einer Triage nicht nur Alter und Gebrechlichkeit Kriterien sein würden. Denn die Patientinnen und Patienten, die nun auf der Intensivstation liegen, seien 20 bis 50 Jahre alt. „Der Impfstatus würde sicher berücksichtigt werden. „Wenn man im Leben A sagt, sagt man auch B.“
Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) hatte bereits Ende vergangenen Jahres ihre Richtlinien zur Patienten-Triage angepasst. Es soll ein Leitfaden für die Mediziner sein, wenn sie entscheiden müssen, wessen Leben nicht verlängert werden kann. „Die Ärzte werden dann zuerst jene behandeln, die die besten Chancen haben zu überleben“, sagte der Berner Gesundheitsdirektor Pierre Alain Schnegg (58). „Das dürften eher die Geimpften sein.“
Noch deutlicher hatte sich zuvor die Zürcher Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli geäußert. „Wer Impfgegner ist, der müsste eigentlich eine Patientenverfügung ausfüllen, worin er bestätigt, dass er im Fall einer Covid-Erkrankung keine Spital- und Intensivbehandlung will. Das wäre echte Eigenverantwortung“, sagte sie dem „Tages-Anzeiger“. Ungeimpfte würden das Gesundheitswesen belasten.
Die Medizin-Ethikerin Ruth Baumann-Hölzle hat dagegen große Bedenken. „Es wäre ein hoch problematischer Paradigmenwechsel, eine Krankheit plötzlich als Schuld zu qualifizieren“, sagte die 64-Jährige die Medizin-Ethikerin dem „Blick“-Bericht zufolge. Würden Menschen einzig aufgrund einer Impfung als mehr oder weniger lebenswert taxiert, widerspräche dies der humanitären Tradition der Schweiz. „Solche Drohungen könnten auch Auswirkungen auf das gesellschaftliche Zusammenleben haben“, gab Baumann-Hölzle zu bedenken.
Schnegg argumentierte dagegen, schon heute müssten auf den Intensivstationen regelmäßig Triagen vorgenommen werden. Wegen der Engpässe müssten bereits jetzt immer wieder Operationen verschoben werden. „Und man kann sich fragen: Ist es korrekt, wenn wir jemandem einen Eingriff verweigern, nur weil wir Platz für einen ungeimpften Covid-Patienten brauchen?“ Schnegg weiter: „Die Leute müssen verstehen, dass die Lage ernst ist. Kein Verständnis habe ich bei jenen, die sich nicht impfen lassen, in die Ferien fliegen, feiern gehen und dann überrascht sind, wenn sie auf der Intensivstation landen. Es gäbe ein einfaches Rezept dagegen: die Impfung!“
Sehr viele Covid-19-Intensivpatienten: Schweiz debattiert über Triage bei Ungeimpften - Tagesspiegel
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