Analyse
Stand: 02.08.2021 10:25 Uhr
Ob Berge oder Meer: Die Reiselust der Deutschen scheint ungebrochen. Und doch werden einige in Zeiten von Pandemie und Extremwetter nachdenklicher. Hat das Auswirkungen auf das Reiseverhalten?
Die Koffer werden wieder gepackt, wenn auch wegen der Reisebeschränkungen derzeit oft noch kurzfristig. Doch die Reiselaune scheint zurück. "Wir sehen einen enormen Nachholbedarf bei Urlaub und Reisen - in allen europäischen Märkten. Sobald Reisebeschränkungen für eine Destination fallen oder erleichtert werden, steigt die Nachfrage", so Kuzey Alexander Esener, Konzernsprecher von TUI. Derzeit seien etwa Reisen nach Spanien, Griechenland, Zypern, Kreuzfahrten und Urlaube in Deutschland gefragt. Die Deutschen sind beim Reisen vorne mit dabei. Corona hat sie zwar ausgebremst, doch ihnen die Reiselust nicht genommen.
Klima-Experten sehen das Reiseverhalten kritisch. "Wir brauchen einen Kulturwandel. Wir sind mit unserem Reiseverhalten an einer Grenze. Für viele sind Reisen in ferne Länder, Sandstrand unter Palmen und bedient zu werden ein Wertemodell. Doch das ist total schräg", sagt der Klimaforscher Johannes Orphal vom Karlsruher Institut für Technologie. "Durch nachhaltiges Reisen allein können wir den Klimawandel zwar nicht stoppen, aber es muss ein Umdenken stattfinden", fordert er. "Mich stört das Narrativ: 'Es ist eh egal, dann kann ich auch das Falsche tun.' Gerade Flugreisen hauen beim CO2 enorm rein", warnt Orphal.
Der CO2-Rechner des Umweltbundesamtes (UBA) zeigt: Ein Hin- und Rückflug von Frankfurt nach Florida hat eine Emissionsbilanz von etwa 3,5 Tonnen CO2 pro Kopf. Um klimaverträglich zu werden, müsse der CO2-Ausstoß allerdings auf unter eine Tonne pro Kopf pro Jahr kommen - und das nicht nur für das Reisen, sondern insgesamt. In einer Publikation des UBA aus dem Jahr 2019 wird der Anteil der Treibhausgas-Emissionen, die durch den weltweiten Tourismus verursacht werden, derzeit auf acht Prozent geschätzt. Die Tendenz sei steigend.
Werbung mit Nachhaltigkeit
"Der Tourismus lebt von einer intakten Natur, doch gleichzeitig belastet er die Natur stark", so Anja Wollesen vom Deutschen Institut für Tourismusforschung. Nachhaltiges Reisen betreffe nicht nur die Anreise zum Zielort, sondern auch die Beherbergung, den Aufenthalt und Transporte vor Ort; außerdem die Arbeitsbedingungen, das gastronomische Angebot oder etwa die Aktivitäten in der Natur. Aus Wollesens Sicht muss sich die Branche schneller verändern als dies bisher geschieht. Der Tourismus ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, doch ohne nachhaltiges Management könne ein Unternehmen auf Dauer nicht überleben. Allerdings brauche es dafür klare gesetzliche Vorgaben, damit Nachhaltigkeit zur Pflicht werde.
"Nachhaltigkeit ist und bleibt unser Leitmotiv", heißt es bei der Lufthansa. Der Konzern habe sich zum Ziel gesetzt, bis 2050 CO2-neutral zu sein, so eine Unternehmenssprecherin. Dabei setze Lufthansa unter anderem auf den Einsatz nachhaltiger Flugkraftstoffe. Auch der Reiseveranstalter TUI wirbt mit Nachhaltigkeit, hat sogar Nachhaltigkeitsbeauftragte wie Kuzey Alexander Esener. Auch hier liege ein Fokus auf neuen Kraftstoffen. TUI biete auch keine Kurzstreckenflüge - sprich: keine Stadtverbindungen - an, so Esener.
An Biokraftstoffen und am Wasserstoffantrieb wird auch am Karlsruher Institut für Technik geforscht. Diese Verfahren seien noch teuer, und bis sie vollständig aus erneuerbaren Energien hergestellt würden, werde es noch zehn bis 15 Jahre dauern, so Klimaforscher Orphal. Wenn die CO2-Bepreisung steige, würden auch die alternativen Kraftstoffe in Zukunft wettbewerbsfähig.
Weniger Reisen, längere Aufenthalte?
"Reisen Sie lieber weniger, aber dafür richtig", wirbt Manfred Häupl, Geschäftsführer von Hauser Exkursionen. Der Reiseanbieter ist Mitglied beim "Forum anders Reisen", einem Verband für nachhaltigen Tourismus. "Reisen unter 800 Kilometer bieten wir nur mit dem Zug an. Für Reisen ab 3800 Kilometer gibt es einen Mindestaufenthalt von zwei Wochen", erklärt Häupl. Außerdem kompensiere sein Unternehmen alle Europaflüge mit 110 Prozent - das heißt: Ein Klimaschutzprojekt werde unterstützt. Zwölf Prozent seiner Kunden kompensierten zusätzlich noch freiwillig, sagt Häupl.
Bei den meisten Veranstaltern aber muss sich der Kunde selbst um die Kompensation kümmern. Und nach Schätzungen von Atmosfair, einem der führenden Anbieter für die Kompensation von Flügen, haben vor Corona ungefähr ein Prozent der Privat- und Geschäftsreisenden deutschlandweit ihren Flug kompensiert.
Die Experten sind sich einig: Dem Klima würde es helfen, wenn seltener gereist würde und dafür länger. Tourismusforscherin Wollesen meint, am besten wäre es, bei Fernreisen sogar zwei, drei Monate einzuplanen. Dafür bräuchte es wiederum eine Flexibilität der Arbeitgeber. Nachhaltiger Tourismus, sagt sie, sei komplex und umfasse eben viele Bereiche.
"Der CO2-Preis muss steigen"
Wolfgang Strasdas, Forschungsleiter des Zentrums für Nachhaltigen Tourismus an der Hochschule Eberswalde, forscht seit 30 Jahren im Bereich Tourismus. Kunden, Unternehmen und die Politik seien gleichermaßen gefragt. "Die Unternehmen können einiges tun", sagt er - und schlägt konkret folgende Maßnahmen vor: "Ihr Portfolio umstellen, Flüge kompensieren, den Zug statt den Flug anbieten oder auch die Kosten pro Reisetag aufzeigen." Dann werde für die Kunden ersichtlich, dass längere Reisen pro Reisetag günstiger seien.
Den wichtigsten Faktor jedoch müsse die Politik angehen: Der CO2-Preis müsse steigen, so Strasdas. Letztlich funktioniere alles nur über den Preis. Und auch Klimaforscher Orphal sagt: "Das wird die Mammutaufgabe der Politik: die CO2-Bepreisung höherzufahren - und das sozial verträglich umzusetzen."
Tourismus: Wie viel zählt das Klima beim Reisen? - tagesschau.de
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