- Nach dem Rücktritt des Gesundheitsministers Matt Hancock fragen sich viele Briten, wer die brisanten Aufnahmen an die Presse weitergeleitet hat.
- Und warum hielt Boris Johnson so lange an ihm fest?
- Derweil übernimmt Sajid Javid das Gesundheitsministerium in einer Zeit, in der die Infektionszahlen in Großbritannien wieder drastisch steigen.
London. Es handelt sich nicht nur um eine in jeglicher Hinsicht außergewöhnliche Affäre, die seit dem Wochenende die öffentliche Diskussion im Königreich dominiert und Matt Hancock den Job als Gesundheitsminister gekostet hat. Es sei auch ein „sehr britischer Skandal“, meinten Kommentatoren. Denn er beinhaltet Sex, Macht, Politik, Lügen – und Filz, wie die Opposition schreit. Manche vermuten gar Korruption.
Entlarvt wurde er durch Aufnahmen einer Überwachungskamera, die erst in die Hände von Reportern der „Sun“ gerieten und seitdem die Titelseiten der britischen Presse pflastern. Sie zeigen den verheirateten Hancock in seinem Büro, wie er Anfang Mai eine ebenfalls verheiratete Mitarbeiterin eng umschlungen küsst – und damit gegen die Corona-Abstandsregeln verstieß, die er selbst tagein tagaus der Bevölkerung predigte.
Am Samstagabend wurde seine Position unhaltbar, Hancock trat zurück. Doch die vielen Fragen, die sich noch immer stellen, sind damit keineswegs beantwortet. Warum hielt Premierminister Boris Johnson so lange zu seinem Gesundheitsminister, der schon seit vergangenem Jahr in der Kritik stand für sein Management in der Corona-Krise?
Beobachter erwarten, dass zahlreiche Fehler Johnsons und Hancocks ans Licht kommen könnten
Selbst in der eigenen konservativen Partei zeigten sich viele verärgert darüber, dass Downing Street Hancock nicht sofort feuerte, stattdessen die Angelegenheit am Freitag nach einer Entschuldigung des Ministers zunächst als erledigt bezeichnete. Beobachtern zufolge wollte sich der Premier einen Sündenbock bewahren, wenn der Umgang der Regierung mit der Pandemie nächstes Jahr zum Gegenstand einer unabhängigen Untersuchung wird. Johnson wollte Hancock laut Abgeordneten bis dahin im Amt halten.
Erwartet wird, dass zahlreiche Fehler und Versäumnisse in der Coronavirus-Krise ans Licht kommen werden. Im Zentrum: Johnson und Hancock. Schon jetzt berichten Medien, es gebe Ermittlungen, Hancock habe zu Beginn der Pandemie, während er Verhandlungen über milliardenschwere Verträge führte, immer wieder nicht sein offizielles, sondern sein privates E‑Mail‑Konto benutzt.
Hinzu kommen unter anderem fragwürdige Millionenaufträge für Corona-Schutzausrüstung, die der 42‑Jährige ohne Prüfung an Freunde verteilt haben soll. Auch die Tatsache, dass seine Geliebte Gina Coladangelo, die Hancock bereits seit Studienzeiten kennt, als Lobbyistin und Beraterin für ihn arbeitete und mit Steuergeldern bezahlt wurde, sorgt für Entrüstung auf der Insel.
Rätsel um die Sicherheitslücke im Ministerium
Damit nicht genug. Antworten verlangen Politiker auch über die Sicherheitslücke im Ministerium. Die Polizei untersucht den Fall, auch der Geheimdienst MI5 soll einbezogen werden. Warum war eine Überwachungskamera in Hancocks Büro installiert? Und wer hat das brisante Video dann der Boulevardzeitung übergeben? Justizminister Robert Buckland verriet gestern, dass er aus Vorsicht seine eigenen Büroräume überprüfen ließ.
Es herrscht der große Kehraus in Westminster. Die Kamera im Gesundheitsministerium wurde immerhin bereits entfernt, wie Sajid Javid gestern bekannt gab. Er wurde noch am Samstagabend zum neuen Gesundheitsminister ernannt. Dass ausgerechnet der 51‑Jährige befördert wurde, galt als Überraschung. Es war Javid, der 2020 nach einem Streit mit Johnson und dessen damaligem Chefberater Dominic Cummings als Finanzminister zurückgetreten war.
Die Delta-Variante macht Sorgen, die Impfkampagne Hoffnung
Doch in der konservativen Partei genießt er hohes Ansehen, ist respektiert bei den mächtigen Hinterbänklern. Nun muss er mit lediglich wenig Einarbeitungszeit und in einer kritischen Phase der Pandemie schnell liefern. Denn die Infektionszahlen im Königreich steigen seit Wochen drastisch an aufgrund der Ausbreitung der zuerst in Indien nachgewiesenen Delta-Variante des Coronavirus.
Am Samstag wurden 18.270 neue Fälle registriert. Das waren so viele wie seit Anfang Februar nicht mehr. Hoffnung macht jedoch die erfolgreiche Impfkampagne. Fast zwei Drittel aller erwachsenen Briten sind bereits vollständig geimpft und rund 84 Prozent haben mindestens eine Dosis erhalten.
Javids Ansatz unterscheidet sich derweil deutlich von jenem seines Vorgängers Hancock, der ein Befürworter von strikten Beschränkungen war. Dagegen verkündete der neue Gesundheitsminister bereits, es sei seine „absolute Priorität“, die noch geltenden Covid-Restriktionen so schnell wie möglich zu lockern. Das lehnte der Premierminister gestern jedoch ab. Es sei „vernünftig“, den „Tag der Freiheit“ nicht vorzuziehen, sondern an dem Plan festzuhalten, erst am 19. Juli die Beschränkungen aufzuheben.
Matt Hancock: Viele offene Fragen nach Rücktritt von britischem Gesundheitsminister - RND
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