Man glaubt es kaum“, sagt Angela Merkel ziemlich zum Schluss ihrer wohl letzten Fragestunde für die Bundestagsabgeordneten, „aber als ich Bundeskanzlerin wurde, gab es das iPhone noch nicht.“ Damals am 22. November 2005 gab es auch etwas anderes noch nicht, nämlich Mädchen, die sich ganz selbstverständlich vorstellen konnten, „Bundeskanzlerin oder Politikerin“ zu werden.
Die gebe es heute, sagt Ulle Schauws von den Grünen, „ich kann das beurteilen, ich war Berufsberaterin in einem SOS-Kinderdorf“ – und fragt Merkel entwaffnend offen: „Sind Sie mit mir der Meinung, dass es deswegen nicht am besten wäre, dass es in diesem Land auch weiterhin eine Kanzlerin geben soll?“
Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock hätte sich da womöglich amüsiert, sie war nicht im Plenum, und Merkel setzt nach einer verdutzten Sekunde ihr Mädchenlächeln auf. „Schauen Sie, ich bin der Meinung, dass nach 16 Jahren Angela Merkel die Bürgerinnen und Bürger mündig genug sind, ihre Entscheidung zu treffen, wen sie als Kanzler möchten oder als Kanzlerin.“
Elegant ausgewichen, Merkel wirkt zum ersten Mal in dieser Fragestunde richtig heiter. Aber ihr CDU-Freund Armin Laschet als Kanzlerin, diese Utopie war in der Antwort eben auch enthalten, in dem grammatisch oft so unverwechselbaren Merkel-Deutsch.
Wie man Kanzlerin wird und 16 Jahre lang bleibt, machte Merkel in dieser zehnten Befragung der Regierungschefin seit 2018 wieder deutlich – sich nicht festlegen, stoisch kompetent wirken, niemals ratlos erscheinen. Schon ihr Eingangsstatement zu Corona enthielt Wörter wie „ermutigend“ und „Hoffnung auf einen guten Sommer“.
Dann folgten natürlich „Augenmaß“, „dünnes Eis“, „das, was wir gemeinsam erreicht haben, nicht leichtfertig riskieren“ – nur ja nicht die Menschen in Sicherheit wiegen, nur ja nicht sie verschrecken. Aber vor allen Dingen: Nur ja nicht endgültige Aussagen treffen, an denen Merkel gemessen werden könnte.
Da fragt der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Carsten Schneider, ob der von Laschet angekündigte „Kassensturz“ nach der Bundestagswahl nicht ein Misstrauensvotum gegen Merkel und ihren Finanzminister Olaf Scholz (SPD) sei. Merkel schaut gelangweilt, hat aber schon in ihrem Unterlagenordner eine Seite mit Zahlenkolonnen geöffnet und sagt mit eher dunkler Stimme:
„Ich würde Sie erst mal beruhigen und würde das nicht als mangelndes Vertrauen verstehen, ich würde das einfach als einen Ansatz verstehen, dass man mal in die Bücher guckt, das macht jeder, selbst der heutige Finanzminister permanent, für mich ist das ein ganz normaler Vorgang“ – ach ja? – eben „einfach zu schauen, wie verhält sich das mit der dann herrschenden Finanzlage, die wir alle im Übrigen noch gar nicht richtig voraussehen können.“
Kann niemand voraussehen. Entscheiden nach Faktenlage. Was tun fürs Wirtschaftswachstum, damit die Zahlen besser werden. Nur ja nichts linear hochrechnen. Nicht Hellseherin spielen, und das mit entschlossen-schelmischem Lächeln. Schneider hakt nach, wie hoch der Konsolidierungsbedarf sei.
Zeit für Merkel, fast spöttisch Kompetenz zu beweisen: „Ja also, wenn Sie es nicht nachgelesen haben – 99,7 ...“ Sie liest genaue Zahlen mit Kommastelle vor und schaut Schneider an: „Stimmt das mit Ihrem Wissen überein?“ Schneider setzt sich, ergeben lächelnd.
So macht sie es immer, ob bei einer FDP-Frage nach dem Rentenloch („Sie können über die nächste Legislaturperiode ja ganz unparteiisch und objektiv reden“) – Merkel sagt, aufgrund ihres Amtseides habe sie „im Rahmen meiner Möglichkeiten immer objektiv gesprochen“. Der Liberale hakt nach: „Wir können ja vorausschauen“, man habe ja demografische Zahlen, man bemesse das Risiko eines für Sonntag angesagten Sturmes ja auch nicht nach dem Sonnenschein am Mittwoch. Merkel: Es sei eine gute Grundlage gelegt worden „für den Zeitraum, den ich jetzt übersehe“. Nur nicht hellsehen.
Bei Corona müsse „situationsgerecht“ weiter geholfen und geschaut werden, welche Lehren zu ziehen sind, „aber im Ganzen haben wir vieles richtig gemacht“. Welche Lehren? Werde man sehen, wenn es so weit ist.
Die Linkspartei fragt nach dem „Impfangebot“ der Bundesregierung für Jugendliche bis Ende August – heißt das, alle Jugendlichen, die bereit seien, hätten bis dahin einen festen Impftermin, oder heißt das, bis Ende August bekämen Jugendliche eine Zusage, demnächst irgendwann einen Impftermin zu bekommen? Merkel: „So wie es aussieht, brauchen wir vielleicht nicht die ganze Zeit, aber ich nenne kein neues Datum.“
Ob Klimaschutz, Wohnungsbaupolitik, Vertragsverletzungsverfahren der EU-Kommission gegen Deutschland, Fußball-WM in Katar – Merkel bleibt auch auf ihrer letzten Befragung ihrem Rezept treu. Sie kann auftreten wie eine Hausärztin, die einem Abgeordneten erst einmal die Leviten liest („Jetzt werde ich mal versuchen zu ordnen, was Sie hier eben alles gesagt haben“), einen Kurzvortrag über Inzidenz, Evidenz, PCR-Konzentration, ct-Wert und dessen „aufsteigenden“ oder „absteigenden Ast“ hält („Ich hoffe, Sie verstehen mich, meine Handbewegung ist hier gegenläufig“) – und dann unvermeidlicherweise sagt: „Vieles hängt von der Impfquote ab, und deshalb kann ich Ihnen für den Herbst dieses Jahres noch keine Aussage machen.“ Natürlich nicht.
Wenn Merkel will, kann sie auch konkrete Ansagen machen
Und wo es doch mal kritisch wird, zum Beispiel bei der Frage des FDP-Außenpolitikers Alexander Graf Lambsdorff nach der ruinierten Einsatzfähigkeit der Bundeswehr nach 16 Jahren Merkel, sagt sie: „Ich teile die Einschätzung in dieser Pauschalität so nicht.“ Es stimme zwar, „wir können nicht alles, was wir vielleicht können sollten“. Aber die Aufklärungsdrohnen leisteten in Mali Hervorragendes. Es ist doch nicht alles schlecht!
Merkel stellt eine Abgeordnete der Linken in den Senkel, die sagt, während Merkels Regierungszeit habe sich die Mietenhöhe verdoppelt, und die von der Kanzlerin eine bundesweite Mietpreisbremse fordert. Da, wo die Linke mitregiere, erwidert Merkel mit plötzlich fast kalter Stimme, sei die Lage kaum besser als woanders. Sie könne sich der Initiative nicht anschließen, „und gewonnen haben Sie auch nicht vor Gericht. So!“ Geraune, Gemurmel, Applaus bei der Unionsfraktion, Zuruf von der Linken. Merkel: „Das ist nicht zynisch, das ist ein Sachverhalt.“
Und sie kann, wenn sie wirklich möchte, auch eine konkrete Ansage machen. Wie sei denn die „im CDU-geführten Wirtschaftsministerium“ von Experten erwogene Anhebung des Renteneintrittsalters über 67 Jahre hinaus zu werten, „und Sie sind ja CDU-Mitglied“? Merkel, kurz und knapp: „Eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit steht für mich nicht auf der Tagesordnung.“
Rentenprognosen – Achtung, nur nicht festlegen oder hellsehen – seien bisher alle schlechter gewesen als die Wirklichkeit. Im Übrigen gebe es ja nun die Grundrente. Von der rede ja keiner mehr, „und deshalb möchte ich sie hier noch mal erwähnen“. Jawoll, die Grundrente, ein Merkel-Erfolg. Ein CDU-Erfolg, nicht wahr.
Sie hätte noch so viel zu sagen, aber das gelbe Flackern da lenke sie ab. Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Linke) erläutert: Gelbes Flackern heißt, die Redezeit endet gleich. Merkel: „Ich hab aber noch so viele Gedanken im Kopf.“ Bei Gelb fahre man im Verkehr ja nicht mehr los. „Ich frage mich: Darf ich den nächsten Satz noch anfangen.“
Die letzte Frage der Fragerunde an diesem Mittwoch, wie auch die erste Frage 2018, stellt die AfD. Wann sei der Internet-Breitbandausbau endlich fertig? Merkel, wie gewohnt: „Ich denke, wir brauchen unser Licht da nicht unter den Scheffel zu stellen.“ Man brauche eben ein bisschen mehr Lust auf den digitalen Umstieg, gerade auf unteren föderalen Ebenen. Merkel schaut den AfD-Abgeordneten fast fröhlich an. So bleibt man 16 Jahre, und so geht man nun, freiwillig.
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Angela Merkel: „Ich hab aber noch so viele Gedanken im Kopf“ - WELT
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