Tausende Menschen sterben aktuell in Indien an den Folgen der Coronapandemie, Tag für Tag. Die Angst vor dem Virus und der daraus resultierende falsche Einsatz von Medikamenten begünstigen jedoch noch eine zweites, verheerendes Leiden. Viele Covid-Erkrankte infizieren sich zusätzlich mit einem seltenen, aber hochgefährlichen Pilz, der bei den meisten zuerst in die Nasennebenhöhlen eindringt und sich von dort aus innerhalb kurzer Zeit durch Knochen, Nerven und Blutgefäße frisst, bis er im schlimmsten Fall im Gehirn ankommt. Ohne Behandlung führt eine solche, sogenannte Mukormykose innerhalb kürzester Zeit zum Tod.
Noch fehlen Zahlen dazu, wie viele Menschen genau betroffen sind. Klar aber ist: Die Medikamente, die gegen die Pilzerkrankung helfen, werden knapp. Indiens Premierminister Narendra Modi warnte am Freitag die Bevölkerung vor der Verbreitung der eigentlich seltenen Krankheit. Mit einem Schreiben ruft das Gesundheitsministerium alle Bundesstaaten dazu auf, Infektionen zukünftig zu melden. Aktuell bekannt sind rund 5000 Fälle, aus etlichen Bundesstaaten fehlen jedoch noch Daten.
Das Problem sei keins, das nur Indien betreffe, sagt Oliver Cornely, Leiter des Europäischen Exzellenzzentrums für Invasive Pilzinfektionen an der Universitätsmedizin Köln. »Indien weiß nur vergleichsweise gut, was in seinem Land vor sich geht. Pakistan etwa, Bangladesch oder Bhutan haben das gleiche Problem.« Mit seinem Team betreibt Cornely seit 18 Jahren das weltweit einzige Register für seltene Pilzerkrankungen. Der Forscher steht mit mehreren Ärzten aus den betroffenen Regionen in Kontakt.
Deutschland: Nur rund hundert Fälle jährlich
Mukormykose ist eigentlich eine seltene Krankheit. Verursacht wird sie durch verschiedene Schimmelpilze, die vor allem im Boden wachsen, wo sie totes, organisches Material zersetzen, Holz etwa. »Die Sporen der Pilze werden mit dem Wind fortgetragen«, sagt Cornely. Werden sie eingeatmet oder gelangen sie in eine Wunde, kann es zu Infektionen kommen. Dies passiert in der Regel jedoch nur bei Menschen mit einem eingeschränkten Immunsystem oder einem schlecht eingestellten Diabetes.
Cornely schätzt, dass in Deutschland jährlich rund hundert Fälle der Pilzerkrankung auftreten, genaue Daten fehlen, die Infektion ist nicht meldepflichtig. Unter Covid-Erkrankten ist ihm hierzulande kein einziger Fall einer Mukormykose bekannt.
Dass die Erkrankung unter anderem Indien so viel stärker trifft, hat mehrere Gründe. Zwei davon führen auch ohne Coronapandemie zu vergleichsweise häufigen Fällen: Die Pilze kommen in der Region wahrscheinlich häufiger vor. Außerdem leben dort viele Menschen mit einem unkontrollierten Diabetes. Dieser verschafft dem Pilz Zutritt zum Körper.
»Bei einem hohen Blutzuckerspiegel wird auf der Oberfläche der Schleimhautzellen in den Atemwegen ein Rezeptor ausgedrückt, an den sich der Pilz anheften kann«, sagt Cornely. »Von dort aus fängt er an zu wachsen und frisst sich durch alles durch.«
Hauptverursacher ist aktuell jedoch nicht der Diabetes, sondern eines der wenigen Medikamente, das bei einer Covid-19-Erkrankung Abhilfe schafft: Kortison. Eigentlich sollte das Mittel bei Coronakranken ungewöhnlich niedrig dosiert und nur über einen begrenzten Zeitraum gegeben werden. Zum Einsatz kommt es unter anderem in Deutschland erst, wenn Menschen einen ausgeprägten Sauerstoffmangel haben. »In Indien hat aber nicht jeder einen Arzt, der ihm das sagen kann«, erklärt Cornely. Hinzu komme, dass Medikamente ohne Rezept in kleinen Läden verkauft werden, auch Kortison. Das Mittel ist leicht verfügbar, die Angst vor dem Virus groß.
Was viele nicht wissen: Kortison hat eine im Zusammenhang mit der Pilzerkrankung gefährliche Nebenwirkung. Es steigert den Blutzuckerspiegel. Gleichzeitig reguliert es das Immunsystem herunter. Dadurch bereitet es, in zu großen Mengen genommen, den Pilzsporen den Weg in den Körper.
Über die Nasennebenhöhlen ins Gehirn
»Ein befreundeter Mikrobiologe, der ein Labor an einer sehr großen Klinik in Nordindien leitet, hat mir erzählt, dass sie in drei Tagen 21 Mukormykosen diagnostiziert haben«, erzählt Cornely. »Normal sind ein bis zwei pro Woche, und das ist schon viel.«
Die Therapie ist aufwendig und wird erschwert, weil es an Medikamenten mangelt. »Es gibt die Mittel zum Teil nicht mehr als Infusion, aber den Erkrankten geht es zu schlecht, um Tabletten oder Saft zu schlucken«, schildert Cornely die Situation. Die »Times of India« berichtet, dass die Regierung in Delhi strenge Richtlinien für den Einsatz der Medikamente eingeführt hat. Dies verzögere jedoch die Therapie der Betroffenen, sagte ein Arzt der Zeitung. Dabei gilt es, Patienten schnellstmöglich zu behandeln, um ihre Leben zu retten.
»Diese Pilze wachsen zerstörend. Sie gehen durch alle Gewebe, selbst durch Knochen, mit einer Geschwindigkeit, die schneller ist als bei jedem Tumor«, sagt Cornely, unter dessen Leitung 2019 die erste medizinische Leitlinie zur Therapie der Erkrankung entstanden ist. Hinzu kommt, dass die Infektionen oft zu spät erkannt werden. »Der Pilz kann vollkommen schmerzlos wachsen, da er die Nerven, denen er begegnet, direkt zerstört«, erzählt Cornely. »Mir hat ein Patient berichtet, dass er morgens aufgewacht ist, und auf einem Auge auf einmal blind war. Sein Sehnerv war zerstört.«
Bei Patienten mit einem hohen Blutzuckerspiegel dringt der Pilz meist über die Schleimhäute in die Nasennebenhöhlen und anschließend weiter in den Kopf vor. Hat er das Gehirn erreicht, kann dem Patienten in der Regel nicht mehr geholfen werden. Rund 50 bis 70 Prozent der an Mukormykose Erkrankten sterben.
»Verstümmelnde Operationen, um das Leben zu retten«
Medikamente allein können die Infektion nicht stoppen. Die Betroffenen müssen zusätzlich operiert, das tote Gewebe entfernt werden. »Der Pilz durchtrennt auch Blutgefäße. Dadurch kann passieren, dass das Blut nicht mehr in das Gewebe fließt, in dem er sich verbreitet. Dann fließt auch kein Medikament mehr dorthin«, sagt Cornely. »Deshalb ist es wichtig, dieses Gewebe wegzuschneiden. Das sind verstümmelnde Operationen, bei denen zum Teil das Auge oder Teile des Gesichts entfernt werden müssen, um das Leben des Erkrankten zu retten.«
Eigentlich sei ein Team aus Hals-Nasen-Ohren-Chirurgen, Augenspezialisten und Neurologen notwendig, um die Betroffenen zu behandeln, sagt auch ein Arzt aus Sevagram, einer Stadt im indischen Maharashtra, der Nachrichtenagentur Reuters. »Leider existieren solche Teams in ländlichen Gegenden nicht.« Doch auch Kliniken in städtischen Regionen ist es kaum möglich, die Erkrankten angemessen zu versorgen. »21 Patienten, die operiert werden müssen, mit mehrstündigen Eingriffen, und das in drei Tagen, das kann keine Klinik mal eben zusätzlich bewältigen, nirgendwo«, sagt Cornely.
Hinzu kommt: Bei den Pilzinfektionen handelt es sich nur um die kleine Epidemie, die aus der großen entstanden ist. Allein am Donnerstag dokumentierte Indien mehr als 250.000 neue Sars-CoV-2-Infektionen und mehr als 4000 Todesfälle. Die tatsächliche Zahl der Toten könnte um ein Vielfaches höher liegen.
Mit Material der dpa und Reuters
Neues Leiden bei Covid-19-Erkrankten: Was es mit der mysteriösen Pilzerkrankung in Indien auf sich hat - DER SPIEGEL
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