rbb|24-Datenrecherche - Viele Geburtskliniken erfüllen Qualitätskriterien nicht
Viele Geburtskliniken der Hauptstadtregion beschäftigen zu wenige Hebammen, um die geforderte Betreuung durch eine Hebamme zu gewährleisten. Vier Brandenburger Kliniken fallen durch eine zu hohe Kaiserschnittrate auf. Von Dominik Wurnig
In mindestens zehn von 19 Berliner Geburtskliniken und in sieben von 25 Brandenburger Geburtskliniken arbeiten weniger Hebammen (in Vollzeitäquivalenten) als die Qualitätsrichtlinie empfiehlt. Das zeigt eine Datenrecherche von rbb|24. Eine Eins-zu-Eins-Betreuung der gebärenden Frau – wie sie eigentlich die Leitlinie empfiehlt – ist dort höchst unwahrscheinlich.
Zudem lag in vier Brandenburger Geburtskliniken die (risikoadjustierte) Kaiserschnittrate über dem Toleranzbereich für gute Qualität. Im Städtischen Krankenhaus Eisenhüttenstadt kam etwa 2018 (neueste Daten) fast jedes zweite Kind (44,9 Prozent) mittels Kaiserschnitt zur Welt – das ist weit über dem Bundesdurchschnitt von rund 30 Prozent.
"Dieses Thema wird auf Landesebene in den Gremien und Fachgruppen der Qualitätssicherung bearbeitet", bestätigt Dagmar Schmidt, Unternehmensbereichsleiterin Strategie und Planung Krankenhäuser bei der AOK Nordost die hohe Kaiserschnittrate in Brandenburg. "Die Fachgruppen sind mit einzelnen Kliniken dazu in einem sogenannten strukturierten Dialog zur Qualitätsentwicklung."
In Berlin hingegen ist die risikoadjustierte Kaiserschnittrate in allen Geburtskliniken im Toleranzbereich oder niedriger.
Recherchekooperation mit dem Science Media Center und 11 Regionalmedien
Die Zahlen sind Ergebnis einer monatelangen Recherchekooperation zwischen rbb|24, der Organisation Science Media Center und zehn weiteren Regionalmedien. Erstmals wurden alle 649 Geburtskliniken deutschlandweit mittels eines standardisierten Fragebogens zur Qualität der Versorgung befragt. Da über 90 Prozent der Kliniken in Berlin und Brandenburg sich am Fragebogen beteiligten, sind vergleichbare Aussagen über die Qualität möglich. Ergänzt wurden die Daten durch die Auswertung der Qualitätsberichte, die Kliniken veröffentlichen müssen.
Hier können werdende Eltern eine gute Geburtsklinik in Berlin und Brandenburg finden
Während der Pandemie ein Kind zu erwarten, macht vieles komplizierter. So gut wie überall entfallen momentan die Kreißsaalführungen, bei denen sich die werdenden Mütter und Väter selbst vor Ort ein Bild machen können. Das macht es auch für Eltern schwieriger, an Informationen zu kommen und die richtigen Fragen zu stellen.
Bleibt die Internetrecherche: Die Websites von Kliniken enthalten völlig unterschiedliche Informationen. Es liegt in der Natur eines eigenen Webauftritts, dass dort die Stärken der jeweiligen Geburtsabteilung präsentiert werden und nicht die Schwächen. So bleiben Eltern oft im Dunkeln darüber, wie hoch die Kaiserschnittrate ist, wann ein Kinderarzt anwesend ist oder genügend Hebammen für eine Eins-zu-Eins-Betreuung Dienst machen.
"Eltern fragen in Geburtskliniken häufig nach Dingen, die zweitranging sind", sagt Maike Manz, die den Bereich "klassische Geburtshilfe" der medizinischen Fachgesellschaft Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) leitet. Zum Beispiel danach, wie die Kreißsäle aussähen oder ob es Familienzimmer gebe. "Das liegt daran, dass Eltern verständlicherweise davon ausgehen, dass in einem Krankenhaus immer das nötige Personal vor Ort ist. Das ist aber nicht der Fall. Eltern sollten unbedingt danach fragen, bevor sie sich für eine Klinik entscheiden."
Statt nach einer Gebärbadewanne sollten werdende Eltern besser fragen, wie viele Hebammen nachts Dienst machen und ob ein fertig ausgebildeter Kinderfacharzt rund um die Uhr anwesend ist.
Sieben Mal "auffällige Qualität" in Brandenburg
Auffällige Qualität kann Gutes oder Schlechtes meinen – in der komplizierten Welt der Krankenhausqualitätssicherung bedeutet "auffällige Qualität" so etwas wie die Gelbe Karte im Fußball. Bei insgesamt sieben Brandenburger Kliniken wurde von der zuständigen Fachgruppe für das Berichtsjahr 2018 (neueste Zahlen) eine "auffällige Qualität" in bestimmten Qualitätsindikatoren bemängelt.
"Struktur- und Prozessmängel"
Die Entscheidungs-bis-Entbindungs-Zeit (E-E-Zeit) beschreibt, dass bei einem Notkaiserschnitt die Dauer zwischen der Entscheidung ("Wir müssen das Kind jetzt sofort per Notkaiserschnitt holen") bis zur Entbindung nicht länger als 20 Minuten dauern darf. Im Qualitätsindikator zum kritischen Gesundheitszustand werden die Ergebnisse des sogenannten APGAR-Tests risikoadjustiert verglichen.
Der Qualitätsindikator zur risikoadjustierten Kaiserschnittrate vergleicht die Zahl der zu erwartenden Kaiserschnitte (Entscheidungs-bis-Entbindungs-Zeit, kritischer Gesundheitszustand) mit den tatsächlich durchgeführten Kaiserschnitten. Während die ersten beiden Indikatoren in der Regel auf wenigen Einzelfällen beruhen und naturgemäß hohen jährlichen Schwankungen unterliegen, ist die Kaiserschnittrate in der Regel ein recht konstanter Wert.
Vier Fälle ließen sich durch fehlerhafte Dokumentation entkräften, erklärte die Landesgeschäftsstelle Qualitätssicherung Brandenburg in einer schriftlichen Stellungnahme. "Bei den weiteren Fällen ergaben sich für die Fachgruppe Hinweise auf Struktur- und Prozessmängel, denen dezidiert nachgegangen wurde." Vor Ort habe sich die Fachgruppe "ein eigenes Lagebild" verschafft. "Als Folge wurden den Kliniken konkrete Maßnahmen vorgeschlagen. Die Umsetzung wird im weiteren Verfahren durch die Fachgruppe überprüft", heißt es weiter in dem Statement.
Nur zwei Prozent der Hebammen betreuen nur eine Frau während der gesamten Geburt
"Frauen sollten ab der aktiven Eröffnungsphase unter der Geburt eine Eins-zu-eins-Betreuung durch eine Hebamme erhalten." Diese Empfehlung steht in der Leitlinie zur Vaginalen Geburt am Termin. Wissenschaftlich belegt ist, dass eine solche 1:1-Betreuung zu mehr vaginalen Geburten führt sowie die Zahl der Kaiserschnitte und höhergradigen Dammrisse senkt und den Einsatz von Schmerzmitteln reduziert.
In der Realität bleibt die ausschließliche Betreuung durch eine Hebamme oft Wunschdenken. Wie oft Kliniken die Empfehlung nicht einhalten können, weiß niemand. Die AOK-Nordost spricht davon, dass die Umsetzung der Leitlinie "sicherlich noch verbesserungsbedürftig" sei. "Eine adäquate Betreuung der Geburt durch eine Hebamme ist die Grundlage für eine sichere Geburt", sagt Dagmar Schmidt, Unternehmensbereichsleiterin Strategie und Planung Krankenhäuser bei der AOK Nordost.
Bisher muss nicht erhoben werden, wie oft die Eins-zu-eins-Betreuung vorkommt. Anhaltspunkte liefert eine Studie des IGES-Institut [externer Link]: Laut der zu Grunde liegenden Umfrage unter rund 2.100 Klinik-Hebammen betreuten gerade zwei Prozent nur eine Gebärende während der gesamten Geburt. Fast die Hälfte (46 Prozent) betreuten gleichzeitig drei Frauen. Selbst während der Phase der sogenannten "aktiven Geburt" betreuten 67 Prozent der Hebammen zwei Gebärende gleichzeitig.
Rainhild Schäfers, Professorin für Hebammenwissenschaften und Mitglied der Bundesfachgruppe Perinatalmedizin, empfiehlt daher: "Eltern sollten unbedingt fragen, wie häufig es vorkommt, dass eine Hebamme mehr als zwei Frauen unter der Geburt betreuen muss."
Hebamme dringend gesucht
Gute Berechnungsgrundlagen für einen Hebammenschlüssel, der zu einer Eins-zu Eins-Betreuung führen würde, gibt es nicht. Einzig die S1-Leitlinie "Empfehlung für die strukturellen Voraussetzungen der perinatologischen Versorgung" [externer Link] macht dazu konkrete Empfehlungen: Kliniken bis 600 Geburten sollten 5,65 Hebammen (gemessen in Vollzeitäquivalenten) beschätigten, um rund um die Uhr eine Hebamme im Dienst zu haben. Größeren Kliniken empfiehlt die Leitlinie je 100 weitere Geburten 0,93 Stellen zusätzlich. Die Leitlinie gibt an, damit sei zu 95 Prozent eine Eins-zu-eins-Betreuung möglich - ob dies tatsächlich machbar sei, zweifeln Experten an.
Lediglich 34 Prozent der befragten Kliniken in Berlin und Brandenburg gaben an, mindestens die empfohlene Anzahl an Hebammen zu beschäftigen. Besonders viele Hebammen im Verhältnis zur Zahl der Geburten beschäftigen einige kleinere Geburtskliniken in Brandenburg wie das St. Josefs-Krankenhaus in Potsdam, Klinikum Barnim Werner-Forßmann-Krankenhaus in Eberswalde sowie das Evangelisches Krankenhaus in Ludwigsfelde. In Berlin hat - trotz vierstelliger Geburtenzahl - die Charité am Standort Campus Mitte einen hohen Hebammenschlüssel.
Verhältnismäßig wenige Hebammen - unter den Krankenhäusern die Angaben gemacht haben - sind im Sana Krankenhaus Templin, in den Havelland Kliniken Rathenow, in der Caritas-Klinik Maria Heimsuchung in Berlin-Pankow sowie im Vivantes Klinikum im Friedrichshain beschäftigt. Die Zahlen zu jeder Klinik stehen in der obigen Karten-Grafik.
Welche Kriterien halten Fachleute bei der Wahl der Geburtsklinik für wichtig?
Neben der ständigen Anwesenheit von ausreichend Hebammen halten es die befragten Fachleute für wichtig, dass immer mindestens ein Gynäkologe, ein Kinderarzt und ein Anästhesist anwesend sind. "Es geht immer um den Faktor Mensch", sagt Frank Louwen, Chefarzt am Universitätsklinkum Frankfort a.M. und Vizepräsident Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe: "Sind die Menschen qualifiziert, die während der Geburt an meiner Seite sind? Und: Sind sie überhaupt da?"
Die Leiterin der Geburtshilfe am Klinikum Darmstadt, Maike Manz, führte aus, selbstverständlich brauche man diese Fachärztinnen und Fachärzte nicht für jede Geburt. Es gebe viele problemlose Geburten, die allein mit einer Hebamme auskämen. "Aber in anderen Situationen kann es passieren, dass tatsächlich auch aus dem sprichwörtlichen Nichts heraus eine Situation kippen kann, wo ganz schnell reagiert werden muss."
Daneben empfehlen die Fachleute, sich nach Interventionen zu erkundigen: Wie hoch ist die Kaiserschnittrate? Wie oft kommt es zu Zangengeburten, Saugglockengeburten oder Dammschnitte? Ein weiteres Kriterium ist das Versorgungslevel der Klinik. Ein hochspezialisiertes Level 1 Zentrum ist auf alles vorbereitet - aber solche Krankenhäuser gibt es in der Regel nur in Großstädten.
Halbe Stunde Fahrt in Kauf nehmen
Ein entscheidender Faktor ist aber immer die Entfernung zur Geburtsklinik. Eltern müssen abwägen, wie viel Zeitverlust sie für eine besser ausgestattete Geburtsklinik in Kauf nehmen wollen. "Wie weit ist die nächste, besser ausgestattete Klinik entfernt? Wie viel weiter müsste ich wirklich fahren? Und ist mir die Sicherheit, die ich dadurch gewinne, das nicht wert?", schildert Frank Louwen die Fragen, die Eltern abwägen sollten.
Die Geburt in einer Level-4-Klinik, ohne Kinderarzt und Kinderklinik, sei zu vertreten, wenn die nächste, bessere Klinik sehr weit weg sei, sagt die Hebamme und Ärztin Maike Manz. Aber nur dann, wenn wirklich keinerlei Risikofaktoren bei Mutter und Kind vorlägen. "Das ist bei rund 80 Prozent aller Geburten der Fall." Manz sagt: "Ich denke, eine halbe Stunde Fahrt kann man ohne Sorge einkalkulieren."
Kreißsaal-Navi
Hilfe bei der schwierigen Abwägung bietet nun eine Anwendung des Science Media Centers, die rbb|24 exklusiv veröffentlicht: das "Kreißsaal-Navi" [externer Link].
Damit können werdende Eltern nach einer geeigneten Geburtsklinik in ihrer Nähe suchen. Der Kreißsaal-Navigator enthält für alle 649 Geburtskliniken in Deutschland einige Informationen, die aus öffentlichen Daten abzuleiten sind, so zum Beispiel die Geburtenzahl und die Kaiserschnittrate. Für die 351 Kliniken, die sich an der Umfrage beteiligt haben, gehen die Informationen weit über die öffentlichen Daten hinaus: Die Eltern erfahren, welche Ärzte rund um die Uhr anwesend sind, wie viele Hebammen im Kreißsaal arbeiten und ob es ausgebildete Stillberaterinnen gibt, die ausschließlich für diese Beratung eingesetzt werden.
Viele Geburtskliniken in Berlin und Brandenburg erfüllen Qualitätskritierien nicht - rbb24
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