„Friendly Fire“ oder „Eigenbeschuss“ – ein Euphemismus für Russlands Verluste im Ukraine-Krieg. Denn die Soldaten sterben auch durch die Salven der Kameraden.
Kiew – Eigentlich hätten sie sich erkennen können – auf Rufweite sind die beiden schwarzen Schemen voneinander entfernt. Zwischen ihnen sirren Lichtblitze, offenbar Garben aus automatischen Waffen. Dann fällt ein Schemen um. Kurz darauf die gleißende Wolke einer Explosion, und der andere Schemen liegt am Boden. 13 Sekunden läuft der Clip einer Infrarot-Drohnen-Aufnahme bei Nacht, der aktuell im Netz kursiert, und den verschiedene Medien zu einem versehentlichen Feuergefecht zweier Soldaten der Invasionsarmee Russlands erklären; der mit dem Tod beider Kontrahenten endet. „Friendly Fire“ nennen so etwas Militärs – Tod durch „Eigenbeschuss“.
Die Quelle des Filmchens und der Ort des Geschehens ist so wenig klar, wie die Behauptung belegbar. Zutreffen könnte sie trotzdem. An jedem Tag des Ukraine-Kriegs kann der eigene Tod in den Gewehrläufen, Kanonenrohren oder Abschussrampen der eigenen Kameraden stecken. Ein Soldatenschicksal, das in Zahlen erst seit den jüngsten Schlachten lange nach der Mechanisierung des Tötens im Ersten Weltkrieg erfasst wird. Im Vietnam-Krieg soll jeder vierte amerikanische Soldat seinen eigenen Leuten zum Opfer gefallen sein – geschätzt. Den Grund schiebt Christoph Birnbaum im Deutschlandfunk dem „Feldmarschall Zufall“ zu:
Russlands Verluste bei der Gegenoffensive: Putins Armee erscheint als „Wegwerf-Infanterie“
„Der militärische Denker von Clausewitz sprach im 19. Jahrhundert immer vom ,Nebel des Krieges‘. Und meinte damit die vielen Unwägbarkeiten, die sich auf dem Schlachtfeld ereignen und jede noch so gute Planung über den Haufen werfen können. Doch auch heute, im Zeitalter der Joystick-Krieger, ,smart bombs‘ und ferngelenkten Drohnen, reduziert sich der Krieg in seinen extremen Momenten – beim Kampf Mann gegen Mann – zuallererst immer auf eins: das Chaos. Geschrieben hat Birnbaum das vor mehr als zehn Jahren – in der Ukraine gilt das unverändert.
Zumindest publiziert der Daily Express unter Berufung auf ukrainische Quellen in dem seit mehr als eineinhalb Jahre tobenden Krieg zwischen der Armee Wladimir Putins und den ukrainischen Verteidigern mehr als 250.000 gefallene Russen; davon sollen – laut Statistiken russischer Offiziere 60 Prozent Opfer von Eigenbeschuss sein. Als „Fleischwolf“ bezeichnet auch der britische Thinktank Royal United Services Institute for Defence and Security Studies die russische Infanterie-Taktik vor allem im zweiten Jahr des Ukraine-Krieges. Die Autoren Jack Watling und Nick Reynolds bezeichnen die Wertschätzung russischer Soldaten durch ihre Führung als „Wegwerf-Infantrie“.
Gegenoffensive: Russland und Ukraine kämpfen um jede Baumreihe
Der Grund für die Verluste der russischen Truppen liegt einerseits in der Stärke der ukrainischen Gegenoffensive – pro-russische Militärblogger behaupten bezüglich des Clips laut Daily Express, dass die Russen selbst in der Offensive gewesen und auf Druck ukrainischer Truppen panisch geworden sein. Andere Kommentatoren sehen die Panik hervorgerufen durch ihren unkoordinierten, bisweilen chaotischen Rückzug. Viele Analysten kritisieren den russischen Führungsstil. Im Online-Magazin War on the Rocks räumen Michael Kofman und Rob Lee der Gegenoffensive der Ukraine weiterhin gute Chancen ein, denn nach Auffassung der Autoren spielen ihnen die russischen Besatzer in die Karten. „Angesichts der verfügbaren Mannschaften kämpfen die Russen zu aggressiv und zu übermütig“, urteilen sie.
Kofman zufolge ist eingetreten, was alle Experten prophezeit hatten – ein Krieg der kleinen Einheiten, zeitraubend und verlustreich. In der Ukraine zeigt sich die klassische Form der russischen Kriegsführung. Der Krieg in der Ukraine sei inzwischen das, was er nie werden sollte: ein Stellungskrieg, der sich von Schützengraben zu Schützengraben zieht und viel Bewegung mit wenig Raumgewinn belohnt. Kofman: „Dieser Krieg hat sich zu einem Krieg um Baumreihen entwickelt. Die Unterschiede in den Frontverläufen erschöpfen sich in ein paar Hundert Metern.“
Ukraine-Krieg: „Panzer versinken bis zum Turm“
Vermutlich werden die russischen Soldaten auch Opfer der Realitätsblindheit von Russlands Präsident Wladimir Putin, der eine moderne Armee gegen die Ukraine hat aufmarschieren lassen wollen, aber eine veraltete geschickt hat – so die Einschätzung von Margarete Klein für den Thinktank Stiftung Wissenschaft und Politik: „Problematischer als Verzögerungen bei der Produktion einzelner Waffensysteme ist der unzureichende Grad an Digitalisierung von Führungs-, Aufklärungs- und Kommunikationssystemen in den russischen Streitkräften.“ Vereinfacht gesagt, scheinen die Russen im Gefecht so blind zu agieren, dass sie Freund und Feind kaum unterscheiden können.
Grundsätzlich hatte Wladimir Putin den Krieg mit schnellen Verbänden auf breiter Front führen wollen, der Ukraine-Krieg war nie als infanteristische Auseinandersetzung geplant gewesen. Aber die Dauer der Auseinandersetzungen führte Ende 2022 erstmals in die Rasputiza (zu Deutsch: „Wegelosigkeit“) mit den Herbstregenfällen und dem Stillstand aller weitgreifenden Operationen – „selbst Kampfpanzer versinken dann bis zum Turm“, sagte der deutsche Oberst Andreas Schreiber, Dozent an der Führungsakademie der Bundeswehr, im Podcast Nachgefragt. Danach blieb lediglich die Offensive auf den eigenen Beinen.
Dazu Brigadegeneral Michael Matz, General der Infanterie und Kommandeur der Infanterieschule Hammelburg, im Podcast Nachgefragt: „Infanteristen kämpfen zu Fuß und suchen auf den letzten Metern die Entscheidung – mit Blickkontakt zum Feind.“
Verluste im Ukraine-Krieg: Viele Russen erschießen sich aus Versehen - fr.de
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