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Tuesday, January 24, 2023

Droht eine Überlastung der Justiz?: Zu viele Verfahren, zu wenige Richter - Tagesspiegel

Im Frühjahr 2020 verschwindet in Bremen ein 46-Jähriger spurlos. Erst anderthalb Jahre später kommt die Polizei seinen mutmaßlichen Mördern auf die Spur. Drei Männer sollen ihn getötet, zerstückelt und anschließend an verschiedenen Orten vergraben haben. Sie kommen in Untersuchungshaft, die Staatsanwaltschaft erhebt Anklage, einem Prozess steht nichts mehr im Wege. Doch dann werden die Männer im Mai 2022 überraschend entlassen. Der Grund: Die sechsmonatige Frist bis zum Beginn der Hauptverhandlung ist bereits abgelaufen – weil die Justiz überlastet ist.

Kein Einzelfall. Versuchter Totschlag, gefährliche Körperverletzung, schwerer Raub. So lauten unter anderem die Vorwürfe gegen mutmaßliche Täter, die in der Vergangenheit aus der Untersuchungshaft freigelassen werden mussten.

Nicht etwa, weil der Verdacht gegen sie aus dem Weg geräumt werden konnte oder die Flucht- oder Verdunklungsgefahr weggefallen war. Sondern weil die Verfahren der potenziellen Gewaltverbrecher zu lange andauerten und damit gegen das Beschleunigungsgebot in Haftsachen verstoßen wurde.

Nach diesem muss die Justiz alles tun, um das Hauptverfahren so schnell wie möglich zu beginnen. Bundesweit waren 2021 mindestens 66 Tatverdächtige aus der Untersuchungshaft entlassen worden, weil ihre Verfahren zu lange dauerten. Der Grund dafür ist vor allem auf den enormen Personalmangel in der Justiz zurückzuführen.

Denn Deutschlands Justiz hat ein Nachwuchsproblem: Viele Jurist:innen mit den entsprechenden Noten entscheiden sich inzwischen nach dem zweiten Staatsexamen eher für eine Karriere in der Großkanzlei als für die Richterrobe.

Grund dafür dürften nicht zuletzt die besseren Verdienstmöglichkeiten sein. Während das Einstiegsgehalt pro Jahr in der Justiz bei etwa 55.000 Euro liegt, locken internationale Kanzleien mit 100.000 Euro aufwärts – plus Snacks und Getränke, neueste technische Ausstattung und ein schickes Büro.

1000

Richter und Staatsanwälte fehlen nach Schätzungen des Deutschen Richterbundes in der Strafjustiz.

Derartiges Chichi sucht man in deutschen Amtsstuben vergebens, aber dafür gibt es doch die richterliche Unabhängigkeit und eine hohe Arbeitszufriedenheit. Oder? Nicht unbedingt. Viele Berufsanfänger:innen empfänden die Arbeit als einsam, sagte ein erfahrener Richter dem Tagesspiegel.

Die Arbeit sei mitunter repetitiv und wenig kommunikativ, die Beförderungsmöglichkeiten gering. Er beschreibt die Berufsabbrecherquote als hoch. „Momentan müssen wir nehmen, wen wir kriegen können.“ 

Schon seit Jahren beklagt der Deutsche Richterbund, dass die Justiz in vielen Bereichen zu dünn besetzt sei, um alle Aufgaben in angemessener Zeit erledigen zu können. Am gravierendsten sei es in der Strafjustiz, sagte Sven Rebehn, Bundesgeschäftsführer des Deutschen Richterbundes, dem Tagesspiegel.

Strafverfahren ziehen sich immer länger hin

„Hier fehlen mindestens 1000 Strafrichter und Staatsanwälte. Mit dem Personalbedarfsberechnungssystem der Länder lässt sich gut nachvollziehen, wie viele Köpfe es braucht, um die anfallende Arbeit in der Strafjustiz zu bewältigen.“ 

Die Diskussionen um Strafverschärfungen nach den Krawallen in der Silvesternacht sieht Rebehn deswegen kritisch. „Schärfere Strafen sind schnell gefordert, sie lösen das Problem aber nicht. Wichtig ist, dass die Strafe schnell auf die Tat folgt, um abschreckend zu wirken. Das gelingt aber nicht immer, weil es der Justiz an Personal fehlt. Einen personellen Puffer, um häufiger beschleunigte Verfahren vor den Amtsgerichten anzuwenden, gibt es vielfach nicht.“ 

8,2

Monate dauert ein durchschnittliches Strafverfahren am Landgericht.

Der Mangel an Richter:innen und Staatsanwält:innen führt neben zunehmend komplexeren Gesetzen und aufwendigeren Ermittlungen dazu, dass Strafverfahren sich immer länger hinziehen. Die durchschnittliche Dauer erstinstanzlicher Strafverfahren am Landgericht ist inzwischen auf einen Höchstwert von 8,2 Monaten gestiegen. Bei den Amtsgerichten hat sich die Verfahrenslaufzeit zuletzt auf 5,8 Monate verlängert.  

Auch in anderen Bereichen versinken Richter und Staatsanwälte in einer Verfahrensflut, etwa bei Asylsachen oder den Dieselklagen. Bürger haben einen Anspruch darauf, ihre Rechte vor Gerichten durchzusetzen. Ist das nicht mehr gewährleistet, bedeutet das eine Gefahr für die Rechtssicherheit und den Rechtsstaat.

Besondere Sorgen bereitet Expert:innen die langsam losrollende Pensionierungswelle: Etwa 40 Prozent der Richter und Staatsanwälte gehen bis zum Jahr 2030 in den Ruhestand. Noch höher dürfte die Zahl in Ostdeutschland sein. Viele der nach der Wende dort neu eingestellten Richter:innen sind im gleichen Alter und gehen deshalb relativ zeitgleich in Pension. Wegen des Sparkurses in den Nullerjahren wurde damals wenig eingestellt – das wird nun zum Problem.  

40

Prozent der Richter und Staatsanwälte gehen bis 2030 in Pension.

Das Bewerber:innenfeld habe sich sowohl in der Qualität als auch in der Quantität verschlechtert, sagte Matthias Koch vom Senat für Justiz und Verfassung in Bremen dem Tagesspiegel. Für die Zukunft sei eher von einer Verschärfung als einer Entspannung der Situation auszugehen. 

Vor allem in der Strafjustiz fehlt es an Personal.
Vor allem in der Strafjustiz fehlt es an Personal.
© Foto: IMAGO/PICTURETEAM

Um das Problem in den Griff zu bekommen, haben einige Länder die für den Eintritt in den Richterdienst erforderlichen Noten abgesenkt. Wo früher ein Prädikat erforderlich war, reicht heute vielerorts ein „befriedigend“. Charlotte Rau, Richterin am Oberlandesgericht Frankfurt am Main und Erste stellvertretende Vorsitzende des Landesrichterbundes Hessen, sieht das kritisch.

„Wir befürchten als Verband eine Minderung der Qualität der Rechtsprechung, die für den Rechtsstaat durchaus gravierende Folgen haben könnte. Im Richterberuf ist man ab dem ersten Tag eigenverantwortlich mit hoch verantwortungsvollen Dingen tätig. Und da halten wir es für unabdingbar, dass der Qualitätsstandard so hoch wie möglich gehalten wird“, sagte sie.

Das Land Niedersachsen hat das Projekt „Justizassistenz“ ausgerufen, um das Problem zu lösen. Seit 2020 dürfen Referendare und Referendarinnen, die überdurchschnittliche Leistungen vorweisen können, während der Ausbildung im Gericht mitarbeiten. Dahinter steht der Gedanke, junge, hochqualifizierte Juristinnen und Juristen für eine spätere Karriere bei Gericht zu begeistern. Katja Meier, Staatsministerin der Justiz in Sachsen, will vor allem auf die Ermöglichung von mobilem Arbeiten, flexiblen Arbeitszeiten und Teilzeitmodellen setzen, sagte sie dem Tagesspiegel.

Der Bund ignoriert bislang die Problembeschreibung der Länder und will sich stattdessen vor allem um eigene neue Digitalisierungsprojekte kümmern.

Anna Gallina, Justizsenatorin in Hamburg (Grüne)

Die Länder fühlen sich vom Bund im Stich gelassen. „Die Bundesregierung ist bisher leider nicht bereit, ihr Versprechen einzuhalten, sich finanziell angemessen an einem Bund-Länder-Pakt zur Stärkung der Justiz zu beteiligen“, sagte Anna Gallina, die grüne Justizsenatorin von Hamburg, dem Tagesspiegel. Der Bund ignoriere bislang die Problembeschreibung der Länder und wolle sich stattdessen vor allem um eigene neue Digitalisierungsprojekte kümmern, bemängelte sie.

„Von einem neuen Rechtsstaats- und Digitalpakt mit den Ländern sind wir daher noch weit entfernt“, sagte sie. „Wir brauchen nicht nur von den Ländern, sondern auch vom Bund ausreichend Investitionen in Digitalisierung und Personal der Justiz.“ Der Bund hingegen sieht die Länder in der Pflicht. 

Der Bund kann lediglich Vermittler sein und Voraussetzungen schaffen, um die bevorstehende Pensionierungswelle so gut wie möglich abzufedern.

Katrin Helling-Plahr, rechtspolitische Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion

Um mehr junge Menschen für Jurastudium und Richterberuf zu begeistern, lägen bereits viele Vorschläge auf dem Tisch, sagte Katrin Helling-Plahr, die rechtspolitische Sprecherin der FDP, dem Tagesspiegel. „Von der Herabsetzung der Noten als Zulassungsvoraussetzung bis zur Überarbeitung der Prüfungsmodalitäten im Staatsexamen – welcher Weg davon beschritten werden soll, muss jedoch jedes Land für sich entscheiden.“

Der Bund könne lediglich Vermittler sein und Voraussetzungen schaffen, um die bevorstehende Pensionierungswelle so gut wie möglich abzufedern, so Helling-Plahr. „Mit dem Pakt für den digitalen Rechtsstaat haben wir dazu bereits bis zu 200 Millionen Euro für Länderprojekte zur Modernisierung unseres Justizwesens auf den Weg gebracht.“

Union wirft der Ampel Versäumnisse vor

Neueste Technik, Unterstützung durch KI, digitale Meetings und Homeoffice – all das sei in den Kanzleien von heute schon längst Realität, sagte die FDP-Politikerin. Hier gelte es, schnellstmöglich aufzuholen. Und Helling-Plahr nennt noch ein Ass im Ärmel: „Gleichzeitig müssen wir mit Arbeitsbedingungen überzeugen, wie sie nur der Staat bieten kann: Familienfreundliche Teilzeitstellen machen das Richteramt mit der privaten Lebensplanung kompatibel.“ 

Günter Krings, rechtspolitischer Sprecher der Union, verweist auf die Leistungen seiner Partei in der letzten Wahlperiode. Diese habe mit dem Pakt für den Rechtsstaat einen nachhaltigen Aufschlag für mehr Personal in der Justiz gemacht.

„Die Länder waren gehalten, im Rahmen des Paktes ihrerseits das Justizpersonal zu verstärken. Im Koalitionsvertrag hatte sich die Ampel zwar eine Verstetigung des Paktes für den Rechtsstaat vorgenommen, dies wurde von Bundesjustizminister Buschmann aber inzwischen gestoppt. Der neue Pakt für den Rechtsstaat ist tot“, sagte Krings. Es liege in der Hand von Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) ihn wiederzubeleben. „Die Ampel scheint Geld für fast alles zu haben, nur nicht für unseren Rechtsstaat.“ 

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