Protest gegen Pläne des Bundes - Warum Berliner Ärzte für einen Tag ihre Praxen schließen
Niedergelassene Kassenärzte erhalten mehr Geld, wenn sie neue Patienten aufnehmen. Doch das soll sich ab nächstem Jahr ändern. Aus Protest bleiben in Berlin am Mittwoch viele Arztpraxen geschlossen. Daran gibt es auch Kritik. Von Thomas Rautenberg
Wo sonst Trubel und Kindergeschrei herrschen, ist in der Kinderarztpraxis an diesem Mittwoch völlige Stille. Jakob Maske hat seine Praxis in Berlin-Schöneberg geschlossen. Der Kinder- und Jugendarzt, der zugleich Sprecher seines Berufsverbandes ist, hat sich dem Ärzteprotest gegen die Streichung der Neupatientenregelung angeschlossen.
Cash für neue Patientinnen und Patienten
In den vergangenen drei Jahren hatte Maske für jeden neu aufgenommenen Patienten eine abschlagsfreie Vergütung bekommen. Grundlage dafür war die Neupatientenregelung. Für die Kassenärzte sollte die Neuaufnahme von Patienten in ihrer Praxis finanziell lukrativer werden. Doch ab Januar kommenden Jahres soll es damit schon wieder vorbei sein.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach plant die Sondervergütung zu streichen – und zieht sich damit den Zorn der niedergelassenen Ärzte zu. Die Kassenärzte würden nicht mehr Geld fordern, stellt der Kinder- und Jugendarzt Jakob Maske klar. Andererseits könne die Arbeit auch nicht geringer bezahlt werden als in der Vergangenheit. "Ich kenne keine Berufsgruppe, die akzeptiert, dass ihre Gehälter geschrumpft werden. Wir fordern nur, dass das, was wir bekommen, gleichbleibt. Kinder und Jugendliche, Patientinnen und Patienten, die ärztliche Hilfe brauchen, müssen sie auch schnell bekommen und nicht erst nach Wochen."
Raus aus der Zwei-Klassen-Medizin?
Im Jahr 2019 hatte der damalige SPD-Gesundheitsexperte und heutige Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach die Einführung der Neupatientenreglung noch in höchsten Tönen gelobt. Kassenpatienten sollten, wie Privatpatienten auch, endlich schneller einen Termin bei den Ärzten bekommen. Das sei ein großer Schritt raus aus der Zwei-Klassen-Medizin, sagte Lauterbach im Deutschen Bundestag. "Wenn wir also massiv unterbezahlte Leistungen für Neupatienten künftig besser bezahlen, dann ist das zwar eine höhere Bezahlung, aber die entspricht den Kosten."
Nach dem Terminservice- und Versorgungsgesetz von 2019 gilt als Neupatient, wer eine Arztpraxis erstmals besucht oder mindestens zwei Jahre lang nicht die Hilfe des Arztes in Anspruch genommen hat. Darüber hinaus legt das Gesetz Mindestöffnungszeiten der Praxen für Kassenpatientinnen und -patienten fest. Und Arztpraxen, die dem Servicedienst der Kassenärztliche Vereinigung von sich aus freie Termine bereitstellen, wird jeder genutzte Behandlungstermin mit zehn Euro zusätzlich vergütet.
Ab Januar steht die Neupatientenregelung vor dem Aus
Jetzt will Lauterbach die Reglung wieder kassieren: kein extra Geld mehr für Ärzte, die neue Patienten aufnehmen. Sollte die Regelung wegfallen, hätte das nach Darstellung der KV massive Auswirkungen: Die medizinische Versorgung gerade der Neupatienten sei dann nur noch eingeschränkt möglich. Die Patienten müssten wieder länger auf Termine warten.
Kinder- und Jugendarzt Jakob Maske weiß, was auf ihn zukommen wird: "Für unsere Praxis bedeutet das, dass wir künftig wieder alles aus unserem Budget bezahlen müssten, und wir können es nicht durch Sonderleistungen, wie die Annahme von Neupatienten, auffüllen."
Seit sechs Jahren hätten die Krankenkassen zudem nur Nullrunden bei der Kostenerstattung für die niedergelassenen Ärzte angeboten, sagt Jakob Maske. Auf der anderen Seite müssten auch die Ärzte höhere Löhne und höhere Mieten zahlen. Selbst den Corona-Bonus, den sich die Angestellten sehr verdient hätten, mussten die Ärzte aus eigener Tasche bezahlen. Er sei nicht vom Staat übernommen worden, wie für die Krankenschwestern und Pfleger in den Kliniken. "Wenn wir finanziell also nicht mehr so viel leisten können, dann wird zwangsläufig auch die Patientenversorgung schlechter", warnt Maske.
Wenig Verständnis bei der Berliner Patientenbeauftragten
Die Berliner Patientenbeauftragte Ursula Gaedigk hat kein Verständnis für die Protestaktion der Ärzte. Es gebe keine Daten, die belegen würden, dass sich durch die Neupatientenreglung tatsächlich etwas in der Patientenversorgung verbessert habe. Und deshalb, so Gaedigk, gehöre sie auch auf den Prüfstand.
Rund 17 Milliarden Euro beträgt derzeit das Defizit der gesetzlichen Krankenversicherung. Die Patientinnen und Patienten würden über deren Steuern und Krankenkassenbeiträge schon sehr stark zur Finanzierung des Gesundheitswesens herangezogen, sagt Gaedigk. Sie habe kein Verständnis dafür, sie jetzt auch noch vor geschlossenen Praxistüren stehen zu lassen. "Ich finde es inakzeptabel, dass die Kassenärztinnen und-ärzte angekündigt haben, die Versorgung ihrer Patienten für einen Tag weitgehend einzustellen. Sie tragen damit einen Interessenskonflikt auf dem Rücken der Patientinnen und Patienten aus – und dort hat er nichts zu suchen."
Rund 2.000 der rund 6.500 Berliner Arztpraxen bleiben am Mittwoch, den 7. September, geschlossen. Wer dringend einen Arzt braucht, dem bleibt die Notversorgung des Kassenärztlichen Vereinigung oder der Weg in die nächste Rettungsstelle eines Krankenhauses.
Sendung: rbb24 Abendschau, 07.09.2022, 19:30 Uhr
Protest in Berlin: Warum viele der 2.700 Arztpraxen heute geschlossen sind - rbb24
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