Rechercher dans ce blog

Saturday, September 10, 2022

Bundestagspräsidentin Bärbel Bas: „Viele können schon lange nicht mehr essen gehen“ - BILD

Sie kennt Armut aus ihrem eigenen Leben: Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (54, SPD) wuchs im Arbeiterhaushalt in Duisburg auf, mit fünf Geschwistern. Brauchte sie als Kind neue Turnschuhe, musste ihre Mutter mit ihr zum Sozialamt, die kaputten Schuhe vorzeigen. Sie hat einen Hauptschulabschluss, machte eine Ausbildung zur Bürogehilfin. Später, als sie bei einer Krankenkasse arbeitete, studierte sie auf dem zweiten Bildungsweg Personalmanagement. Seit 2009 sitzt sie für ihren Wahlkreis Duisburg im Bundestag, seit knapp einem Jahr ist sie Präsidentin des Parlaments und damit die zweite Frau im Staat.

BILD am SONNTAG: Frau Bas, wenn Sie in Duisburg Familie, Freunde, Wähler treffen, was treibt die Menschen um?

Bärbel Bas: „Ich spüre eine große Verunsicherung. Die gibt es übrigens auch bei uns Abgeordneten. Niemand kann derzeit sicher voraussagen, was noch alles an Herausforderungen auf unser Land und Europa zukommt. Wir haben mit dem russischen Angriffskrieg, der Energiekrise und Corona drei Krisen auf einmal. Im Moment verunsichert vor allem die Preissteigerung die Menschen. In meiner Reinigung erzählte mir eine Rentnerin, dass ihre Nebenkostenzahlung um 50 Euro steigt. Sie weiß nicht, wie sie das bezahlen soll. Schon solch kleine Beträge stürzen viele Menschen in Not. Diese Frau erwartet, dass die Politik ihr hilft.“

Bas spielte selbst Fußball, hat als Anhängerin des MSV Duisburg Fanartikel im Präsidentenbüro

Bas spielte selbst Fußball, hat als Anhängerin des MSV Duisburg Fanartikel im Präsidentenbüro

Foto: ©Niels Starnick/Bild/BamS

Nach einer aktuellen Umfrage glaubt nur noch eine Minderheit, dass der Staat die großen Pro­bleme lösen kann.

Bas: „Was wir in der Politik als notwendigen Streit sehen, um einen Kompromiss zu finden, geht den Bürgern zunehmend auf den Geist. Die erwarten mehr Führungsverantwortung und schnellere Lösungen. Auch die Politik-Sprache ist ein Grund. Dabei geht es nicht darum, den Leuten nachzuplappern, aber wir brauchen eine deutlichere, verständlichere Sprache. Dazu kommt die Corona-Politik. Das Hin und Her hat für Entfremdung gesorgt, die Widersprüche haben Vertrauen gekostet.“

Halten Sie das dritte Entlastungspaket für ausreichend, um Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen durch den Winter zu bringen?

Bas: „Es ist ein gutes Signal, dass den Leuten geholfen wird. Derzeit ist offen, wie sich Inflation, Krieg und Energieversorgung weiter entwickeln. Um das Schlimmste gerade für Menschen mit wenig Einkommen abzufedern, müssen wir bei einem Fortschreiten der Krisen bereit sein, noch einmal nachzulegen.“

Sie kennen Armut aus Ihrer Kindheit. Was ist das Härteste am Armsein?

Bas: „Am gesellschaftlichen Leben nicht teilnehmen zu können. Viele Menschen in Deutschland können schon lange nicht mehr spontan im Restaurant essen gehen oder im Kino einen Film gucken. Viele Ältere überlegen, ob sie sich das Stück Kuchen beim Bäcker leisten können, weil die Rente sonst nicht bis zum Monatsende reicht. Das empfinde ich als dramatisch.“

Ich brauche blutige Bücher, damit kann ich mich am besten ablenken

Warum zahlt die Regierung dann 300 Euro an alle aus, statt den Ärmeren richtig zu helfen?

Bas: „Gerechte Einkommensgrenzen für die Hilfen zu ziehen ist schwierig. Die Koalition will auch die Durchschnittsverdiener entlasten. Aber eins weiß ich: Die ganz oben, und dazu zähle ich, brauchen dieses Geld nicht. Ich hätte mir mehr Differenzierung gewünscht, um gezielt den Schwächsten zu helfen.“

Was macht es mit Leuten, die immer für sich selbst sorgen konnten und nun wegen der Strom- und Gaspreisexplosion Unterstützung vom Staat brauchen?

Bas: „Niemand möchte beim Amt Bittsteller sein. Das nagt am Selbstbewusstsein. Unser Ziel muss sein, dass niemandem in diesem Winter Strom oder Heizung abgestellt oder sogar die Wohnung gekündigt wird, weil die Menschen unverschuldet die Rechnungen nicht bezahlen können. Auf der anderen Seite muss gelten: Wer in dieser Krise als Gewinner vom Platz geht, muss einen Teil seiner Profite abgeben. Es ist eine Frage der Gerechtigkeit, dass diese Zufallsgewinne abgeschöpft werden.“

Wie oft hören Sie „Ihr da oben ...“?

Bas: „Oft. Leider. “

Sie sind die zweite Frau im Staat. Ihr Büro ist 60 Quadratmeter groß.

Bas: „Und damit größer als meine Berliner Wohnung, da lebe ich auf 42 Quadratmetern. “(lacht)

Leidenschaft Motorrad: Bas in jungen Jahren. Heute fährt sie Harley-Davidson

Leidenschaft Motorrad: Bas in jungen Jahren. Heute fährt sie Harley-Davidson

Foto: Baerbelbas.de

Wie sehr hat Ihr neues Amt Ihr Leben verändert?

Bas: „Die Leute fragen mich jetzt öfters: Darf ich dich noch duzen? Ja, natürlich, sage ich dann. Ich will, dass die Leute ohne Abstand mit mir reden.“

Viele Bürger empfinden Politik als abgehoben. Da rufen Abgeordnete ständig zum Sparen auf, nur bei sich selbst spart der Bundestag nicht. Mit 736 Abgeordneten ist er das zweitgrößte Parlament der Welt.

Bas: „Sie kennen ja den Spruch, dass Frösche ungern ihren eigenen Teich trockenlegen – insofern ist das halt ein schwieriges Thema. Aber eine Reduzierung der Abgeordnetenzahl muss jetzt kommen. Bei der nächsten Wahl müssen wir zu einer akzeptablen Größe, den maximal 598 Abgeordneten, zurückkommen. Wir brauchen den Deckel nach oben.“

Unterstützen Sie den Ampel-Vorschlag für eine Wahlrechtsreform, auch wenn die Union dagegen tobt?

Bas: „Natürlich wünsche ich mir bei einer Wahlrechtsreform eine möglichst breite parlamentarische Mehrheit. Nur zur Ehrlichkeit gehört dazu: Wenn wir darauf warten, kriegen wir vielleicht wieder keine Wahlrechtsreform. Damit wäre niemandem geholfen. Deshalb ist mir am Ende wichtig, dass wir zu einer Reform kommen. Wird diese von einer breiten Mehrheit getragen, umso besser.“

Um das Schlimmste abzufedern, müssen wir bereit sein, noch einmal nachzulegen

Was auffällt: Auf Ihrer Homepage als Abgeordnete zählen Sie Ihre Lieblingsbücher auf. Kein Goethe, kein Schiller, kein Philosophie-Werk, sondern Thriller von Stieg Larsson und Stephen King. So „normal“ gibt sich kaum ein Politiker.

Bas: „Ich habe sogar Karl May gelesen. (lacht) Warum soll ich so tun, als wäre ich eine andere Persönlichkeit, nur weil es sich auf der Homepage gut macht? Klar, in der Schule musste ich viele Klassiker wie Goethe oder Schiller lesen. Aber ich brauche blutige Bücher, damit kann ich mich am besten vom Alltag ablenken.“

Als drittes Buch empfehlen Sie „Der Arschloch-Faktor: Vom geschickten Umgang mit Aufschneidern, Intriganten und Despoten im Unternehmen“. Wie ist da Ihr Rat?

Bas: „Dass man auf solche Leute trifft, das passiert wohl jedem im Job. Vor allem für Frauen ist es wichtig, sich nicht verunsichern zu lassen. Die Taktik, andere durch Aufschneiderei einzuschüchtern, habe ich oft erlebt. Solche Typen gibt es wohl überall. Meine Erfahrung: Die kochen am Ende alle nur mit Wasser. Deshalb: Nerven behalten, Sprüche abtropfen lassen und das Gehabe nicht ernst nehmen. Wenn es schlimm kommt: richtig dagegenhalten, dann gibt es halt eine klare Ansprache.“

Foto: BILD

Dieser Artikel stammt aus BILD am SONNTAG. Das ePaper der gesamten Ausgabe gibt es hier.

Adblock test (Why?)


Bundestagspräsidentin Bärbel Bas: „Viele können schon lange nicht mehr essen gehen“ - BILD
Read More

No comments:

Post a Comment

Erneut viele Proteste gegen Rechtsextremismus in Niedersachsen - NDR.de

Stand: 01.02.2024 13:31 Uhr Wegen des Treffens von Rechtsextremisten in Potsdam haben in Niedersachsen Hunderttausende gegen Rechtsextremi...