An der Wand hinter seinem Schreibtisch mit Blick in Richtung Bahnhof Dammtor hängt ein Bild, das den Philosophen Theodor W. Adorno nachdenklich bei einer Bergwanderung zeigt. An lange Strecken und unwegsames Gelände hat sich auch Professor Mojib Latif gewöhnt, der von hier aus seit Jahresbeginn die Hamburger Akademie der Wissenschaften leitet. Bekannt wurde er als Klimaforscher am Geomar Helmholtz-Institut in Kiel, seine Expertise ist auch in der Politik und in den Medien gefragt, der 67-Jährige ist häufiger Gast in den wichtigsten Talkshows der Republik.
Zufriedenheit ob des Erreichten strahlt Latif aber dennoch nicht aus, er will nicht mehr nur Mahner und Warner sein; ihm geht es darum, dass viel entschiedener gegen die Erderwärmung angegangen wird. Allerdings nicht mit radikalem Protest auf den Straßen – das hält er sogar für kontraproduktiv.
WELT AM SONNTAG: Lassen Sie uns über das Spiel Jenga reden, Sie erwähnen es in Ihrem neuen Buch „Countdown“. Was hat es damit auf sich?
Mojib Latif: In der Klimaforschung sprechen wir von sogenannten Kipppunkten, ab denen Prozesse einsetzen, die nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Jenga ist ein Spiel mit Bauklötzen, bei dem es darum geht, Steine aus einem Turm herauszuziehen und obendrauf wieder abzulegen. Das ist erst leicht und wird dann immer schwieriger, bis eben alles spontan kippt oder zusammenbricht. Wir stressen die Umwelt, und wenn hier ein gewisser Grad der Störung überschritten wird, gibt es keinen Weg zurück mehr.
WELT AM SONNTAG: Ist denn schon etwas gekippt?
Latif: Das ist nicht so einfach zu sehen wie bei einem Bauklötze-Turm. Wir wussten etwa nie genau, bei welchen Temperaturen diese Kipppunkte eintreten. Die im Pariser Klimaabkommen festgelegten Werte von deutlich unter zwei Grad Erderwärmung im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter, besser aber nicht mehr als 1,5 Grad, waren Ausdruck der Hoffnung, dass dann die Wahrscheinlichkeit für das Einsetzen solcher Prozesse relativ gering ist.
WELT AM SONNTAG: Sind diese Ziele denn noch erreichbar?
Latif: 1,5 Grad sicher nicht. Bei den jetzigen weltweiten Emissionen hätten wir die schon in knapp zehn Jahren gerissen. Die Zwei-Grad-Marke ist nur noch zu erreichen, wenn die Welt innerhalb eines Vierteljahrhunderts komplett Abschied nimmt von fossilen Brennstoffen. Europa und auch die USA sind da sogar auf einem guten Weg, aber dieser Rückgang wird überkompensiert durch die Entwicklungen in China oder auch in Indien, die große Wachstumsraten aufweisen.
WELT AM SONNTAG: Gerade wurde auf dem G7-Gipfel in Bayern ein Klimaclub gegründet, es geht dabei um Klimapatenschaften, aber auch um den Wegfall von Handelszöllen. Ein richtiger Schritt?
Latif: Diese Zollpolitik forderte ich als „Allianz der Willigen“ schon lange, so werden wichtige Hürden für die internationale Zusammenarbeit abgebaut. Aber G7 hat auch gezeigt, was gerade das eigentliche Problem der Klimadebatte ist.
WELT AM SONNTAG: Nämlich?
Latif: Ursprünglich war geplant, dass diese Zusammenkunft der Staatschefs hauptsächlich der Klimapolitik gewidmet wird. Nun war das ein eher schnell abgehakter Nebenpunkt. Es besteht insgesamt die Neigung, erst mal alles andere vorzuziehen, sei es die Pandemie oder jetzt der schreckliche Angriffskrieg. Das sind akute Probleme, aber die Klimakatastrophe und auch das Artensterben stehen auf einem anderen Niveau, sie bedrohen die Lebensgrundlagen.
Die Erderwärmung wird weltweit sehr viele Todesopfer fordern, und sie tut es jetzt schon. Sie vernichtet Existenzen in Gegenden, die eben noch als sicher und wohlhabend galten. Wir brauchen eine langfristige Strategie in der Klimapolitik und Abkommen, die gelten, egal was sonst noch passiert und die bei Nichterfüllung wirksam sanktioniert werden. Aber genau daran hapert es, und die Folgen sehen wir. Gucken Sie nur nach Italien.
WELT AM SONNTAG: Dort ist in einigen, eigentlich sehr fruchtbaren Regionen seit November kein Regen gefallen, die Flüsse führen kaum noch Wasser.
Latif: Richtig, solche Hitze- und Trockenperioden, wie wir sie auch in Deutschland erleben können, verändern alles. Dazu kommen Starkregenereignisse. Wohlstandsverlust ist die Folge, den die Staaten schon bald durch Hilfszahlungen nicht mehr auffangen können. Und auch die Anpassungsfähigkeit des Menschen stößt hier an ihre Grenzen. Wie soll Landwirtschaft funktionieren, wenn es kaum regnet? Wie will man sich an Starkregen anpassen, wie der vor Jahresfrist im Ahrtal?
Bei der steigenden Erderwärmung wird es auch immer häufiger dazu kommen, dass mehrere extreme Ereignisse gleichzeitig oder kurz aufeinanderfolgend auftreten, hinzu kommen die sozialen Folgen, die eine große Gerechtigkeitsdebatte auslösen werden, zwischen den Regionen, den sozialen Schichten und den Generationen.
WELT AM SONNTAG: Als Präsident der Hamburger Akademie der Wissenschaften haben Sie in der kommenden Woche zu einer Podiumsdiskussion eingeladen, auf der debattiert werden soll, wie wir Krisen besser vorbeugen können und welche Rolle die Wissenschaft in ihrer ganzen Breite hier künftig spielen kann und soll.
Latif: Wir müssen erörtern, wie gemeinsame Lösungswege aussehen können, es gibt für Entwicklungen oft mehrere Ursachen und mehrere daraus resultierende Folgen. Krisenprävention und -bewältigung erfordern einen interdisziplinären Ansatz.
WELT AM SONNTAG: Gibt es einen Vertrauensverlust in die Wissenschaft?
Latif: In einigen Bevölkerungsgruppen bestimmt, das geht einher mit einem Vertrauensverlust in die Politik, wir haben das durch die sogenannten Querdenker-Gruppen erlebt. Auch ich bekomme fast täglich beleidigende Mails. Es ist in den vergangenen Jahren insgesamt nicht gut gelungen, dass unser Wissen in gesellschaftliches Handeln umgesetzt wird. Deswegen will ich Wissenschaftskommunikation in meiner Präsidentschaft nach ganz oben auf die Agenda setzen, wir müssen da neue Wege finden.
WELT AM SONNTAG: Weil Politik, gerade in einer Demokratie, nach einem anderen Takt funktioniert als die Wissenschaft? In Ihrem neuen Buch schreiben Sie, dass das Klima „einen langen Bremsweg hat“, der weit länger sein kann als ein Menschenleben.
Latif: Ja, der Erfolg von Maßnahmen ist nicht kurzfristig ablesbar, das macht die Vermittlung schwieriger. Früher dachte ich, dass die Wissenschaft ihre Erkenntnisse nur nachvollziehbar darlegen muss, und dass sich daraus fast automatisch die richtigen politischen Entscheidungen ableiten. Heute bin ich da auch schlauer.
Ich sehe, dass noch immer über ein Tempolimit auf Autobahnen gestritten wird, obwohl es kein einziges stichhaltiges Argument für die Beibehaltung gibt. Meiner Meinung nach haben Lobbys ein zu starkes Gewicht. Sie vertreten Partikularinteressen und haben nicht das Wohl der Allgemeinheit im Blick. Das sehen wir auch gerade bei der Diskussion um das Ende des Verbrennungsmotors.
WELT AM SONNTAG: Was erreicht denn die Öffentlichkeit, um hier das Verhalten zu beeinflussen? Bilder wie die jetzt aus Italien oder auch von Waldbränden in Brandenburg?
Latif: Auch, denn man sieht daran, wie nah das alles mittlerweile ist, dass es auch unser Problem ist. Ansonsten müssen wir über Anreizsysteme ein anderes Verhalten erreichen. Das 9-Euro-Ticket ist jetzt ein guter Versuch, der aber nicht im August enden sollte. Günstiger öffentlicher Verkehr und ein Ausbau der öffentlichen Verkehrssysteme mit Zügen, die pünktlich und sauber sind, schnelles Internet haben, wären ein wichtiger Baustein. Wer steht schon gern im Stau?
In den vergangenen Jahrzehnten wurde in Deutschland die Bahn jedoch gegen die Wand gefahren, andere Länder waren hier weitsichtiger. Die Menschen müssen merken, dass sie vom Klimaschutz profitieren. Das kostet den Staat etwas, aber wenn durch die Erderwärmung die Schadenskosten explodieren, dann kostet das langfristig noch viel mehr.
WELT AM SONNTAG: Durch die Ukraine-Krise wird neu debattiert, die Kohleverstromung länger laufen zu lassen, auch Flüssiggas-Terminals soll es geben. Können Sie das verstehen, auch wenn es schädlich für das Klima ist?
Latif: Es gab in den letzten Jahrzehnten scheinbar gewichtige Gründe, um an den fossilen Energien festzuhalten. Wir hätten schon aus den Ölkrisen der 1970er-Jahre lernen müssen. Das rächt sich jetzt.
WELT AM SONNTAG: In der Klimabewegung gibt es Gruppen wie die „Letzte Generation“, die sich stark radikalisieren, die sich auf Straßen festkleben oder wie zuletzt hier in Hamburg Gebäude besetzen und beschädigen. Halten Sie das für gerechtfertigt?
Latif: Diese sehr radikalen Gruppen – und damit meine ich nicht Fridays for Future, das viel bewirkt – meinen, dass sie aus hehren Zielen heraus so agieren dürfen, aber das stimmt nicht. Sie befördern vielmehr eine Spaltung der Gesellschaft, und das ist das Schlimmste, was passieren kann – wir sehen das in den USA, wo im Grunde keine politische Maßnahme mehr durchsetzbar ist, weil die Gräben so tief sind. Der Zweck heiligt auch hier nicht die Mittel, gerade weil das angestrebte Ziel so viel schwerer zu erreichen ist.
Seinen Forschungsschwerpunkt hat Mojib Latif seit dem Jahr 2003 am Geomar – Helmholtz-Institut für Ozeanforschung in Kiel, hier forscht er zu den menschlichen Einflüssen auf das Klima und zu Veränderungsprozessen des Klimas. Aufgewachsen ist der heute 67-Jährige aber in Hamburg, er machte sein Abitur im Gymnasium am Kaiser-Friedrich-Ufer, auch das Studium absolvierte Latif zu großen Teilen in Hamburg, inklusive der Promotion bei dem heutigen Physik-Nobelpreisträger Klaus Hasselmann.
Klimawandel: „Die Erderwärmung wird weltweit sehr viele Todesopfer fordern, und sie tut es jetzt schon“ - WELT - WELT
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