Etwa 400.000 Rom:nja lebten vor dem Krieg in der Ukraine. Rassismus und Gewalt gehörte oft zu ihrem Alltag. Seit Beginn der russischen Invasion verließen viele das Land. Wie sieht ihr Leben auf der Flucht aus? Joanna Talewicz-Kwiatkowska ist selbst Romni und forscht als Kulturanthropologin an der Universität Warschau zur Rom:nja-Community. Seit dem Krieg organisiert sie Hilfe für geflüchtete Rom:nja.
ze.tt: Joanna Talewicz-Kwiatkowska, wie geht es Rom:nja, die aus der Ukraine flüchten, im Vergleich zu weißen Ukrainer:innen?
Joanna Talewicz-Kwiatkowska: Leider gelten nicht alle Geflüchteten als gleich schützenswert. Hier in Warschau nehmen viele Aufnahmelager beispielsweise keine Rom:nja auf. Im März stand ich mit mehr als zwanzig Frauen und Kindern vor einer Unterkunft und der Mann an der Tür hat uns abgewiesen – er meinte, die Frauen seien keine Ukrainerinnen, sondern Betrügerinnen und Bandenmitglieder. Ohne ihre Pässe zu kontrollieren, hat er behauptet, sie hätten keine Stempel, die bestätigen würden, dass sie aus der Ukraine nach Polen geflohen wären. Wir waren komplett allein in der Kälte.
ze.tt: Wie ist die Situation in den Aufnahmeeinrichtungen, die Rom:nja aufnehmen?
Talewicz-Kwiatkowska: Das Schlimme ist: Selbst wenn wir einen Platz in einer Unterkunft finden, ist es meistens nur auf Zeit. Nach ein paar Wochen rufen mich die Leiter:innen der Unterkünfte in der Regel an und sagen mir, dass ich und meine Kolleg:innen uns jetzt bitte wieder um die Personen kümmern sollen. Ich finde es grotesk, dass die Menschen erwarten, dass Rom:nja sich um andere Rom:nja kümmern sollen. Die Situation ist furchtbar, weil die betroffenen Familien ständig von einem Ort zum nächsten springen müssen – abgesehen davon ist meist ein Wunder nötig, um eine Wohnung für Rom:nja zu finden. Dabei wäre es wichtig, dass die Menschen zur Ruhe kommen können. Vor allem die Kinder. Manche von ihnen haben aufgrund der schrecklichen Erlebnisse im Krieg komplett aufgehört zu sprechen und bekommen Panik, wenn sie die Geräusche von Autos auf der Straße hören. Sie brauchen psychologische Unterstützung.
ze.tt: Waren Sie auf den Rassismus gegen geflüchtete Rom:nja vorbereitet?
Talewicz-Kwiatkowska: Zu Beginn des Krieges wollten meine Kolleg:innen und ich zunächst allen Ukrainer:innen helfen. Wir kamen nicht einmal auf die Idee, spezifisch für Rom:nja Hilfsangebote zu schaffen. Wir dachten, jetzt im Krieg würden Probleme wie Rassismus keine Rolle spielen. Aber wir lagen falsch. Ich weiß von Fällen, in denen Rom:nja – wenn überhaupt – erst nach weißen Ukrainer:innen Zugang zu humanitärer Hilfe bekamen. Auch an den Grenzen wurden teilweise weiße Personen bevorzugt.
ze.tt: Wie sah das Leben von Rom:nja in der Ukraine vor dem Krieg aus?
Talewicz-Kwiatkowska: Die Lebensrealität von Rom:nja in der Ukraine ist vielschichtig. Je nachdem, ob Menschen in Kiew oder im ländlichen Gebiet leben, erfahren sie unterschiedlich stark Diskriminierung. In der Hauptstadt ist etwa der Zugang zu Bildung einfacher, weshalb die Menschen zum Teil gut ausgebildet sind und gute Jobs haben. Auf dem Land ist es wesentlich problematischer. Viele Rom:nja dort haben keinen Zugang zu Bildung. Sie leben in Armut und von der Dominanzgesellschaft separiert. Viele haben ihr ganzes Leben ausschließlich in einem Umfeld verbracht, das nur aus anderen Rom:nja bestand, in homogenen Siedlungen. Manche haben teils lebensgefährliche Pogrome rechtsradikaler Ukrainer:innen miterlebt und außerhalb der eigenen Community Diskriminierung erfahren. Viele von denen, die jetzt hier sind, waren vorher noch nie im Ausland. Sie sind total verängstigt.
ze.tt: Laut Angaben der Europäischen Kommission sind bislang 100.000 Rom:nja aus der Ukraine geflohen. Fühlen sie sich sicherer im europäischen Ausland?
Talewicz-Kwiatkowska: Eine Gruppe aus 21 Personen blieb drei Wochen lang geschlossen am Warschauer Hauptbahnhof. Sie hatten Angst, voneinander getrennt zu werden. Da es so schwer ist, überhaupt Unterkünfte für Rom:nja zu finden, wäre es nahezu unmöglich gewesen, alle gemeinsam unterzubringen. Sie fürchteten sich auch vor den weißen Ukrainer:innen und deren Rassismus in den Unterkünften. Sie haben mir gesagt: "Wir wollen nicht umgebracht werden." Öffentliche Orte sind für sie sicherer als solche, wo nachts die Lichter ausgehen. Nach drei Wochen haben sie sich entschieden, zurück in die Ukraine zu gehen – weil sie sich dort sicherer fühlten als in Polen, umringt von Nichtrom:nja.
ze.tt: Worauf basiert diese Angst?
Talewicz-Kwiatkowska: Ich bin selbst Romni aus Polen. Unsere Situation hier unterscheidet sich zwar von der ukrainischer Rom:nja. Aber uns ist gemein, dass unsere Identität auf Angst basiert. Die Verfolgung während der Nazizeit und des Sowjetregimes wirkt bis heute nach. Im Jahr 2018 gab es Pogrome gegen Rom:nja in der Ukraine. Rechtsextremist:innen griffen Rom:nja an und verletzten mehrere schwer, ein junger Rom wurde ermordet. Jetzt sehen wir, dass Geflüchtete, die romani und ukrainisch sind, doppelt verängstigt sind. Sie fürchten sich vor dem russischen Militär und misstrauen der ukrainischen Mehrheitsgesellschaft. Selbst mir gegenüber haben mehrere Personen gesagt: "Wir sind gute Menschen, wir sind gute Roma – wir sind nicht so wie die anderen." Es macht mich so traurig zu sehen, mit welchem Bewusstsein für die eigene Position die Menschen hierherkommen. Sie wissen, dass sie von Menschen aus der Dominanzgesellschaft oft als kriminell und weniger wert angesehen werden.
ze.tt: In den sozialen Medien tauchten zu Kriegsbeginn Fotos von Rom:nja in der Ukraine auf, die sie gefesselt, gedemütigt und misshandelt zeigen. Die Taten seien laut verschiedenen Medien von ukrainischen Rechtsextremist:innen begangen worden.
Talewicz-Kwiatkowska: Als die Fotos auftauchten, habe ich mich mit Kolleg:innen aus ganz Europa ausgetauscht. Wir sind uns einig, dass die Fotos aus dem Kontext gerissen sein müssten – und zwar von den Pogromen, die 2018 von Rechtsradikalen gegen Rom:nja ausgeübt wurden. Damals haben wir uns als Rom:nja-Community bemüht, international ein Bewusstsein zu schaffen, was Rom:nja in der Ukraine erleben – ohne große Resonanz. Und jetzt, vier Jahre später, werden diese Bilder benutzt, um zu beweisen, dass alle Ukrainer:innen Nazis seien, und die russische Aggression zu rechtfertigen. Im Augenblick ist es für viele Betroffene schwer, über Rassismus und Diskriminierung zu sprechen – weil sie Rom:nja sind, aber eben auch ukrainisch. Viele Roma kämpfen gerade genauso wie weiße Ukrainer. Viele Personen möchten gerade nicht über Diskriminierungserfahrungen reden, weil sie es für den falschen Zeitpunkt halten. Weil sie nicht beschuldigt werden wollen, jetzt etwas gegen Ukrainer:innen zu sagen.
ze.tt: Was bedeutet der Krieg für Rom:nja aus verschiedenen Generationen?
Talewicz-Kwiatkowska: Es gab und gibt keine Generation, die frei von Traumaerfahrungen ist. In Polen etwa kann fast jede Rom:nja-Familie Geschichten von den Konzentrationslagern und Deportationen des Nationalsozialismus erzählen. Jede Generation erlebt Gewalterfahrungen, die sich wie Schichten über die generationsübergreifenden Traumatisierungen legen. Und jetzt passiert es schon wieder, dass eine Generation von jungen Rom:nja Krieg, Verfolgung und Diskriminierung erlebt. Rom:nja erhalten nicht die gleiche Hilfe und Unterstützung wie weiße Ukrainer:innen, wir werden wieder zu einer gesonderten Kategorie Mensch gemacht. Das ist ein Teil des Traumas.
Geflüchtete Roma: "Viele Roma fürchteten sich vor Rassismus in den Notunterkünften" - zeit.de
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