Für viele Menschen hat Corona in den vergangenen Monaten seinen Schrecken verloren.
Mit dem Auftauchen der Omikron-Variante Ende vergangenen Jahres breitete sich das Virus zwar mit zuvor unbekannter Geschwindigkeit aus und infizierte binnen weniger Wochen Millionen Menschen in Deutschland. Allerdings erkrankten die meisten von ihnen - wenn überhaupt - nur vergleichsweise leicht, auch dank der Impfungen. Ist der Ausnahmezustand der vergangenen Jahre also vorbei?
Eine oft geäußerte Hoffnung ist, dass die Pandemie sich in eine Endemie wandelt. Dieser häufig etwas unscharf verwendete Begriff beschreibt einen Zustand, in dem die Infektionswellen abflachen und damit zumindest für einen Großteil der Bevölkerung auch die Auswirkungen des Infektionsgeschehens weniger gravierend sind. Laut Friedemann Weber von der Justus-Liebig-Universität Gießen kommt es bei der Frage nach der Endemie darauf an, ob man die Krankheit Covid-19 oder das Virus Sars-CoV-2 meint.
Endemisch bedeutet nicht automatisch gut
Ein endemischer Zustand wäre dann erreicht, wenn es keine starke Häufung von Infektionen oder Erkrankungen mehr gäbe. «Im Fall von Covid-19 könnte das schon bald der Fall sein, denn Immunität - erworben durch Impfung und Infektion - schützt ganz gut davor», sagt Weber. «Im Fall des Virus werden aber immer wieder neue Varianten eingeschleppt, die für einen raschen Anstieg der Fallzahlen sorgen.» Grundsätzlich gilt: Endemisch bedeutet nicht automatisch gut. Denn natürlich können Menschen weiterhin an Covid-19 erkranken und sterben.
Wie es in den kommenden Monaten weiter geht, wie stark uns das Virus noch beschäftigen wird, hängt unter anderem davon ab, wie groß die Immunität in der Bevölkerung mittlerweile ist. Also wie viele Menschen über eine zurückliegende Infektion oder über eine Impfung einen Schutz vor einer weiteren Ansteckung und/oder Erkrankung aufgebaut haben.
Hinweise auf das Ausmaß der Immunität gibt eine kürzlich von Wissenschaftlern des Robert Koch-Instituts (RKI) vorgelegte Modellierung. Nach dieser Untersuchung sind nur noch sieben Prozent der Menschen in Deutschland immunologisch naiv - also weder geimpft noch über eine Ansteckung mit dem Coronavirus in Kontakt gekommen.
Je größer der Anteil dieser Gruppe, desto leichter hat es das Virus im Allgemeinen, sich auszubreiten. Mit sieben Prozent sollten die Ausbreitungschancen des Virus schon beträchtlich begrenzt sein - auch wenn nicht sicher ist, wie gut geschützt die übrigen 93 Prozent jeweils vor weiterer Ansteckung und Erkrankung sind.
Allerdings verweisen die RKI-Forscher darauf, dass die erreichte Immunität von Bundesland zu Bundesland sehr unterschiedlich sei, zumeist aufgrund der unterschiedlichen Impfquoten. Auch in den Altersgruppen variierten die ermittelten Zahlen sehr: Bei älteren Menschen ab 60 Jahren mit höherem Risiko eines schweren Krankheitsverlaufs gehen die Wissenschaftler von rund vier Prozent aus, die immunologisch naiv sind. Unter den Kindern sei die Zahl derer, die über keinerlei Immunität verfügten hingegen größer - schließlich gibt es für die Jüngeren unter 5 Jahren noch keinen Covid-19-Impfstoff, für die 5- bis 11-Jährigen bisher nur eine eingeschränkte Impfempfehlung.
Nichts Genaues kann vorhergesagt werden
Wie sich die Situation in den kommenden Monaten entwickeln wird, ist entscheidend auch von der weiteren Entwicklung des Virus abhängig. Und die ist schwer vorherzusehen. «Andere Viren, wie zum Beispiel Grippe-Viren, verändern sich eher schrittweise und weniger sprunghaft als Sars-CoV-2 in den vergangenen zwei Jahren», sagt Richard Neher, der am Biozentrum der Universität Basel die Evolution von Viren erforscht. «Es ist denkbar, dass Sars-CoV-2 sich in Zukunft auch gradueller und weniger dramatisch verändert.» Ob und wann dieser Wandel komme, sei aber unklar.
Das Auftauchen einer «Killervariante», wie sie von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach vor einiger Zeit in den Raum gestellt wurde, wird von den meisten Experten für eher unwahrscheinlich gehalten. Aber auch ohne eine extrem immunresistente und krankmachende Variante ist nicht abschließend geklärt, wie gut - und wie langanhaltend - der bisher erreichte Immunschutz in der Bevölkerung ist.
Fachleute gehen davon aus, dass er im Allgemeinen mit der Zahl der Kontakte zunimmt, die eine Immunität herstellen - also mit der Zahl an Impfungen oder durchgemachten Infektionen. Vollständig Geimpfte mit einem Booster und bestenfalls einer zurückliegenden Infektion wären demnach am besten vor schwerer Erkrankung geschützt. Ungeimpfte Menschen, die sich in den zurückliegenden Monaten lediglich mit Omikron angesteckt haben, sind womöglich im kommenden Herbst kaum bessergestellt als gänzlich Immunnaive. Vor allem, wenn ihre Infektion nur milde verlaufen ist, habe das Immunsystem nach Ansicht einiger Fachleute womöglich keinen langfristig ausreichenden Immunschutz aufgebaut.
«Wenn im nächsten Herbst/Winter immer noch Omikron-ähnliche Varianten bei uns vorherrschen, können wir mit der Anzahl der Immunnaiven wahrscheinlich gut zurechtkommen», sagt der Immunologe Carsten Watzl, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie. «Wenn von Delta abgeleitete Varianten vorherrschen, ist die Gruppe der Immunnaiven größer, und das könnte dann immer noch Probleme bereiten.»
Gefahren für das Gesundheitswesen niedriger
Als Vorteil verbucht Virusevolutionsforscher Neher aus Basel, dass die Immunitäts-Landschaft in der Bevölkerung immer diverser werde, da die Menschen unterschiedliche Impf- und Infektionshistorien hätten. «Mit zunehmender Diversität werden Varianten, die die Immunität der Mehrheit der Bevölkerung umgehen, weniger wahrscheinlich.»
Kann man vor diesem Hintergrund davon ausgehen, dass Überlastungen des Gesundheitssystems und der Intensivstationen der Vergangenheit angehören? «Was Covid betrifft in meinen Augen ja, selbst bei einer neuen Variante mit ausgeprägtem Immunescape», sagt Christian Karagiannidis, wissenschaftlicher Leiter des Divi-Intensivregisters. «Da müssten wir schon sehr viel Pech haben.» Allerdings setzen sich Belastungen des Gesundheitswesens zusammen aus den vorhandenen Kapazitäten und allen Erkrankten - «da müssen wir mit einer deutlichen Welle respiratorischer Erkrankungen im Herbst/Winter rechnen, wie zum Beispiel der Grippe».
Ob die Maßnahmen im Herbst wieder verschärft werden müssen, sei extrem schwierig vorherzusagen, sagt Hajo Zeeb vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie in Bremen. «Ganz harte Maßnahmen wie Lockdowns sollten aber nicht mehr nötig werden, vor allem wenn weitere Boosterung über den Sommer erfolgt.»
© dpa-infocom, dpa:220511-99-237611/2
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