Stand: 02.02.2022 06:09 Uhr
Eine Frau wird vergewaltigt, aber die Ermittlungen gegen den Täter kommen nicht voran, weil die zuständige Abteilung bei der Polizei überlastet ist. Von Fällen wie diesem berichten Beratungsstellen aber auch der Bund der deutschen Kriminalbeamten in Hamburg. Für die Opfer ist das nur schwer zu ertragen.
Bei der Beratungsstelle "Dolle Deerns" in Hamburg-Niendorf suchen Mädchen und jungen Frauen Hilfe, die sexualisierte Gewalt erlebt haben. Die Mitarbeiterin erzählen von einer Frau, die wir Anna nennen. Sie wurde von ihrem Nachbarn vergewaltigt. Als sich die junge Frau zusammen mit der Beraterin Susana Pietsch an die Polizei wendet, wird Anna zwar befragt, der Täter allerdings lange nicht.
"Wochenlang, monatelang war klar: Der wurde nicht von der Polizei konfrontiert. Das war total tragisch für dieses Mädchen", berichtet Pietsch. "Die hat gesagt: Ich musste schon so oft zur Aussage und der wird nicht ein Mal befragt. Warum stehen die nicht bei ihm vor der Tür?" Viele Betroffene hingen in der Luft, so die Beraterin.
Immer mehr sexualisierte Gewalt
Und das obwohl es gleichzeitig in Hamburg immer mehr sexualisierte Gewalt gibt. Bei den besonders schweren Fällen - wie Vergewaltigung und Nötigung - weist die jüngste Kriminalstatistik für das Jahr 2020 ein Plus von knapp 36 Prozent aus. Viel zu tun also für das LKA 42, der Spezialabteilung für Sexualdelikte beim Hamburger Landeskriminalamt. Doch dort blieben die Ermittlungen zum Teil monatelang liegen, berichten Insider dem NDR.
Jan Reinecke vom Bund der deutschen Kriminalbeamten beklagt, die Abteilung sei unterbesetzt und überfordert. Er spricht von unhaltbaren Zuständen: "Man hat es mit schwerst traumatisierten Personen zu tun. Man hat große Ansprüche an sich selbst und gerade in diesem Bereich kann es nicht sein, dass es so einen Druck aus der Verfahrensmasse gibt, der auf einem lastet." Mit anderen Worten: Die Ermittler kommen vor lauter liegen gebliebener Fälle nicht voran.
115 Ermittlungen liegen auf Eis
Eine Interview-Anfrage des NDR lehnt die Pressestelle der Hamburger Polizei ab. In einem schriftlichen Statement gibt ein Sprecher gegenüber aber offen zu: "Aktuell übersteigt die Anzahl der eingehenden Ermittlungsvorgänge die Sachbearbeitungskapazitäten der Mitarbeiter."
Beim LKA 42 arbeiten demnach 44 Polizistinnen und Polizisten an mehr als 650 Fällen. Rein rechnerisch wäre damit jeder einzelne Polizist für mehr als 14 Sexualstraftaten zuständig. Hinzu kommt, dass allein zehn Mitarbeiter in Teilzeit arbeiten oder in Elternzeit sind. Acht weitere sind Berufsanfänger. So liegen 115 Ermittlungen aufgrund der angespannten Personallage zurzeit auf Eis, schreibt die Polizeipressestelle selbst. Kolleginnen und Kollegen, die in ganz anderen Bereichen arbeiten, müssen aushelfen.
Geschultes Personal gefragt
"Es ist halt kein anderer da", berichtet Polizei-Gewerkschafter Reinecke. "Also werden diese Vorgänge unter anderem vom Dauerdienst bearbeitet aber auch von anderen LKA-4-Dienststellen wie der Mordkommission oder auch der Dienststelle, die sonst für KFZ-Diebstahl zuständig ist."
Gerade das sei aber der falsche Weg, meint die Sozialpädagogin Urte Paulsmeier von der Beratungsstelle "Dolle Deerns". Für die Befragung von traumatisierten Menschen brauche es geschultes Personal - und vor allem Fingerspitzengefühl. "Gerade so eine chronologische Abfolge was wann, wie wo passiert ist - das funktioniert oft nicht bei traumatisierenden Erlebnissen", erklärt Paulsmeier. "Das Gehirn wirft das durcheinander. Das muss in Befragung mitgedacht und nicht zulasten der Betroffenen ausgelegt werden.“
Drei neue Stellen geschaffen
Immerhin: Ab April sollen beim LKA 42 drei neue Stellen geschaffen werden. Die Behörde hofft, dass sich die Situation damit entspannt. Der Polizei-Gewerkschafter Reinecke bleibt skeptisch. Er fordert von der Politik eine strategische Personalplanung. "In vielen Bereichen wird sieben Tage die Woche rund um die Uhr gearbeitet. Dafür steht aber immer mehr Personal nicht zur Verfügung. Und da sehen wir nach wie vor keine Lösungsansätze, sondern das Problem wird immer schlimmer."
"Das ist tragisch für Betroffene"
Darunter leiden vor allem Betroffene sexualisierter Gewalt wie Anna. Ihre Beraterinnen Susana Pietsch und Urte Paulsmeier hoffen, dass sich die Lage bald verbessert, denn ihr Fall, sagen sie, zeige deutlich die Auswirkungen der Personalnot bei der Polizei. "Das ist natürlich tragisch für Betroffene sexualisierter Gewalt, wo eigentlich zeitnah was passieren muss", so Paulsmeier. "Damit auch Beweise gesichert werden können. Damit auch für Beschuldigte, die übergriffig waren, ein Zeichen gesetzt wird. Dass klar ist: Das ist nicht in Ordnung, das geht nicht und da passiert auch was und da steht eben auch mal die Polizei vor der Tür."
Weitere Informationen
Hamburg: Viele Sexualstraftaten werden nicht verfolgt - NDR.de
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