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Friday, January 7, 2022

„Viele Aktive fühlen sich des Protestes beraubt“ - fr.de

Kasachstan-Expertin Diana T. Kudaibergenova über die Gewalt bei Protesten, verpasste Chancen auf einen Dialog und den wachsenden politischen Druck in der Gesellschaft.

Frau Kudaibergenova, wer organisiert die Proteste in Kasachstan?

Alle Proteste sind mehr oder weniger spontan entstanden. Natürlich gab es gewisse Netzwerke, die aus den vorherigen Protesten hervorgegangen sind. Das Spielt vor allem in den Industrieregionen eine Rolle. Diese Gruppen bauen auf sozialen Netzwerken im Internet und Gewerkschaften auf. Das sind sehr friedliche Demonstrierende.

Und warum kippten dann die Proteste so schnell in Gewalt?

Grundsätzlich ist es sehr wichtig zwischen den gewalttätigen und den friedlichen Demonstrierenden zu unterscheiden. Es waren nicht die Friedlichen, die die Polizei angriffen. Die gewalttätigen Gruppen gingen im Gegensatz zu den friedlichen sehr organisiert vor. Die Situation vor Ort ist sehr komplex und es sind eine Vielzahl unterschiedlicher Gruppen involviert. Welche das sind, lässt sich aktuell mit Sicherheit noch nicht sagen. Wichtig ist jetzt, zwischen den friedlichen und den gewalttätigen Gruppen zu unterscheiden. Die friedlichen Protestierenden haben sich sehr spontan formiert. Sie gingen mit ihren politischen Beschwerden auf die Straße. Dann sind da noch die gewalttätigen Elemente innerhalb des Protests, die die Polizei angreifen. Das Ziel der Gewalttätigen ist es offenbar, Menschen zu töten, Gewalt zu verbreiten und Chaos zu stiften.

Was wollen sie damit erreichen?

Das wissen wir noch nicht. Das hängt davon, wie genau diese Gruppen organisiert sind und wer dahinter steckt. Es muss betont werden, dass die vorherigen Proteste stets friedlich waren. Es gab nie das Vorhaben der Zerstörung. Ich sehe viele enttäuschte Menschen. Sie sind enttäuscht wegen all der Gewalt, dem Anzünden der Stadtverwaltungen, weil das nicht ihre Form des Protests ist. Das ist etwas noch nie Dagewesenes. Ich weiß nicht, wer diese gewalttätigen Gruppen sind, ich weiß nicht, wer sie organisiert, und ich weiß nicht, was ihre Ziele sind. Es muss eine transparente Untersuchung stattfinden. Das ist beispiellos für die Proteste in Kasachstan. Wir wissen nicht wo sie herkommen, aber sie haben definitiv zum Ziel, die aktuelle Situation zu destabilisieren.

Zerstörte Verwaltung in der Finanzmetropole Almaty.

© Abduaziz Madyarov / afp

Es sind vor allem Männer auf den Straßen zu sehen. Wo sind die Frauen bei diesen Demonstrationen?

Frauen sind teil der friedlichen Proteste. Auch hier ist die Unterscheidung zwischen den gewaltbereiten und den friedlichen Demonstrierenden wichtig. Seit es zu den Ausschreitungen gekommen ist, haben sich die Frauen, ebenso wie die friedlichen Männer, zurückgezogen. Die Gruppe ist sehr divers. Darunter sind Mütter, die für eine bessere Versorgung für Familien protestieren. Es gibt eine große feministische Bewegung, die im vergangenen Jahr große Kundgebungen im Rahmen der März-Märsche organisierte. Darunter waren auch Queer-Gruppen. Unter diesen Umständen, wie der aktuellen Gewalt, der Gesetzlosigkeit und der Tötung von Menschen, ist es nicht sicher für Frauen auf der Straße. Viele Journalisten übersehen, dass die Proteste schon immer friedlich waren und sehr divers sind. Die politischen Forderungen der vielen Gruppen sind unterschiedlich, aber alle fordern einen Wechsel in der Politik.

Was wollen die friedlichen Demonstrierenden genau?

Sie fordern nicht nur eine Senkung der Energiekosten, sondern der Lebenshaltungskosten insgesamt. Außerdem geht es um politische Reformen. Viele haben die soziale Ungleichheit satt. Sie wollen eine Regierung, der sie vertrauen können und Politiker:innen, die ihre Stimmen hören und entsprechende politische Reformen einleiten, die den Lebenstandart verbessern. Dabei geht es vor allem um langfristige politische Entwicklung und keine kurzfristigen Lösungen.

Welche Folgen wird die Gewalt auf der Straße nun haben?

Als die Gewalt einsetzte, fühlten sich viele Aktive des Protestes beraubt. Draußen ist es nicht mehr sicher. Also haben sich die meisten der friedlichen Gruppen zurückgezogen und damit werden deren politische Forderungen leiser. Aber das bedeutet nicht, dass es sie nicht gibt. Sie wollten mit der Regierung in einen friedlichen Dialog treten. Das wurde nun durch die Gewaltausschreitungen verhindert.

Ankunft russischer Soldaten mit einem Truppentransporter irgendwo in Kasachstan.

© -/RU-RTR Russian Television/AP/dpa -

Das Durchschnittsalter in Kasachstan liegt bei 29 Jahren. Wie ist die demografische Aufteilung der Protestierenden?

Meiner Beobachtung nach ist die Gruppe divers. Ich habe 50-Jährige gesehen und ältere politische Aktivisten, die bereits länger dabei sind, aber natürlich gibt es auch viele junge Demonstrierende. Leider sind auch viele Jüngere in der gewaltbereiten Gruppe. Jedenfalls den Videos nach zu urteilen.

Diana T. Kudaibergenova

© Cambridge Univ.

Zur Person:

Diana T. Kudaibergenova ist promovierte Kultursoziologin an der britischen Universität Cambridge.

Soziale Entwicklungen Kasachstans und anderer zentralasiatischer Staaten gehören zu ihren Forschungsgebieten. (FR)

Wie lassen sich die aktuellen Proteste mit den vorherigen vergleichen?

Die Proteste in Kasachstan waren schon immer friedlich. Die politischen Forderungen haben sich mit der Zeit verändert. In den 1990er Jahren ging es um die Unabhängigkeit. Seit 2011 haben vor allem wirtschaftliche Forderungen an die Politik zugenommen. Diese wurden nicht erfüllt. Mittlerweile sind weitere Forderungen nach mehr Mitsprache dazugekommen.

Gibt es eine klare politische Idee, die die Menschen auf die Straße treibt?

Es ist wichtig zu verstehen, dass es keine ideologische Bewegung hinter den Protesten gibt. Die aktuellen Ereignisse lassen sich nicht im liberalen, westlichen Kontext betrachten. Denn es gab hier keinen Raum für die Entwicklung einer Zivilgesellschaft, die so etwas diskutiert. Wir sprechen über ein autoritäres Regime, in dem Menschen noch vor drei Jahren Angst hatten, überhaupt über gewisse Dinge zu sprechen.

Interview: Natalie Sablowski

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