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VonThomas Roser
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Viele Länder auf dem Balkan zählen sehr viele Corona-Opfer. Die Gründe dafür ähneln sich von Land zu Land: mangelndes Vertrauen in die Regierung – und Verschwörungsglaube.
Für die nahenden Festtage schwant Ungarns Ärzteschaft wenig Gutes. „Die Epidemie wütet, die Notaufnahmen ertrinken in Patienten“, ließ die Ärztekammer (MOK) des Donaustaats bereits Mitte November die Alarmglocken schrillen: „178 Tote pro Tag, das sind 1000 Tote pro Woche – ein Dorf, wenn die Zahlen nicht steigen. Es wird für viele Familien ein trauriges Weihnachten, wenn wir den Anstieg nicht abbremsen.“
Danach sieht es im Südosten des Kontinents nicht aus. Egal, ob die vierte Welle der Pandemie wie in Ungarn (7-Tage-Inzidenz: 700), Kroatien (736) oder der Slowakei (1343) mit voller Kraft wogt, wie in Slowenien (672) nun ihren Höhepunkt erreicht und überschritten hat oder wie in Serbien (169) vorläufig wieder am Abklingen ist: Auf der Europakarte der 7-Tage-Inzidenz sind die meisten Staaten der Region seit Wochen tief- bis dunkelrot gefärbt.
Rumänien: 90 Prozent der Corona-Toten sind ungeimpft
Dramatisch hoch sind auch die Zahlen der Covid-Toten auf dem Balkan. Unter den weltweit zehn Staaten mit der höchsten Zahl von Corona-Toten pro 100 000 Einwohner finden sich mit Bulgarien, Bosnien und Herzegowina, Montenegro, Nordmazedonien, Ungarn, Tschechien und Rumänien nicht weniger als sieben Länder der Region.
Eine Erklärung bietet beispielsweise der Blick auf Rumäniens detaillierte Aufschlüsselung der Zahlen: Rund 70 Prozent der Infizierten und rund 90 Prozent der Corona-Toten sind den Behördenangaben zufolge Ungeimpfte.
Die Zahlen korrespondieren auffällig mit der hohen Impfskepsis und den sehr geringen Impfquoten auf dem Balkan. Nur 22 Prozent der Menschen in Bosnien, 25,4 Prozent in Bulgarien, 37,9 Prozent in Nordmazedonien und 38,3 Prozent in Rumänien sind vollständig geimpft – weit unter dem EU-Mittel von 67,03 Prozent.
Selbst bei den Nachbarn in Serbien (45 Prozent) und Ungarn (60,6 Prozent), die sich wegen der frühen Versorgung mit chinesischem Sinopharm- und russischem Sputnik-Serum zu Jahresbeginn noch als Europas Impfvorreiter feierten, steigen die Impfquoten kaum noch.
Impfstoff ist da - aber kein Vertrauen
Genügend Impfstoff wäre inzwischen da. Doch das Vertrauen in den eigenen Staat, Würdenträger und Institutionen ist auf dem Balkan aus leidvoller Erfahrung traditionell sehr gering.
Gleichzeitig sitzt die Impfskepsis in der Region der leidenschaftlich gepflegten Verschwörungserzählungen und fragwürdiger Quacksalber besonders tief: Über die rückläufige Bereitschaft der Eltern zu Vorsorge-Impfungen für ihre Kinder klagen Fachleute in der Region schon seit Jahren.
Der zweifelnden Bevölkerung stehen sehr starke, zum Teil von kirchlichen und rechtsextremen Gruppierungen gestärkte Impfgegner-Bewegungen sowie oft opportunistische und wenige konsequente Entscheidungsträger:innen gegenüber: Deren Sorge um die Wiederwahl, die Rücksicht auf die starke Gastronomie-und Tourismus-Lobby sowie die Furcht vor einer Rezession erweisen sich im zweiten Corona-Jahr stärker als die Warnungen aus der Epidemiologie.
Langes Zögern und halbherziges Handeln
Der Versuchung, die Epidemie wählerwirksam, aber verfrüht für besiegt zu erklären, konnte auch in Südosteuropa kaum ein Würdenträger widerstehen. Kurskorrekturen und schärfere Regeln werden oft nur zögerlich und viel zu spät beschlossen.
So rang sich Ungarns Regierung erst im November zur Wiedereinführung der Maskenpflicht im öffentlichen Nahverkehr und in geschlossenen Räumen durch. Nur um ihre „eigene Leistung zu loben“, habe Budapest die kostengünstigste Schutzmaßnahme für vier Monate ausgesetzt und die „Tragödie unserer verstorbenen Landsleute“ ignoriert, ärgert sich die Zeitung „Nepszava“.
Der offenen Auseinandersetzung mit Gruppe von Impfgegnerinnen und -gegnern gehen viele politische Köpfe auch aus wahltaktischen Gründen oft aus dem Weg: In Serbien treten bekennende Impfgegner wie der umstrittene Pulmologe Branimir Nestorovic in regierungsnahen TV-Sendern auf. Und in Kroatien marschierten bei der Anti-Impf-Großdemonstration in Zagreb am vergangenen Wochenende Rechtsextremisten auf. Entsetzt sprach das Portal „index.hr“ von einer „paramilitärischen Formation“.
Viktor Orban: „Das Schwerste steht uns noch bevor.“
Ungarn verfüge über genügend Serum-Reserven nicht für die dritten, sondern auch für vierte Auffrischimpfungen, ruft Premier Viktor Orban nun seine Landsleute spät, aber eindringlich zur Immunisierung auf: „Ungarn ist mitten in der vierten Welle. Und das Schwerste steht uns noch bevor.“
Zumindest im benachbarten Slowenien scheint die Welle ihren Gipfel hingegen überschritten zu haben. Grund zur Entspannung sieht Gesundheitsminister Janez Poklukar allerdings keineswegs: Wenn die Impfquote nicht erhöht und die Schutzregeln nicht strikt angewendet würden, werde es „im Februar zu einer fünften Welle kommen“.
Viele Tote, zu wenige Geimpfte - Frankfurter Rundschau
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