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Sunday, November 28, 2021

Wie kann Deutschland so viele Menschen auf einmal impfen? - FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung

Alle, die in Deutschland impfen, stehen vor der schwersten Zeit, seit es Corona gibt. In den kommenden Wochen und Monaten sollen sie nicht nur alle Erwachsenen impfen, die sich endlich zu einer Erstimpfung entschlossen haben. Sie sollen auch allen anderen eine Boosterimpfung geben. Und, um den Andrang noch zu steigern, sollen sie von der Weihnachtszeit an auch noch die ganzen Kinder impfen, die älter als fünf Jahre sind. Für die Zeit kurz vor Weihnachten wird nämlich eine Empfehlung der Ständigen Impfkommission für die Kindervariante des Impfstoffs erwartet.

Justus Bender

Redakteur in der Politik der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

Im Frühling gab es wenig Impfstoff, die Priorisierungsgruppen kamen nacheinander dran, die Menschen warteten artig viele Wochen, bis sie dran waren. Jetzt kommen alle auf einmal. Stephanie Goldhammer ist ärztliche Leiterin der Firma EcoCare, die neun Impfzentren betreibt. Sie sagt: „Es ist wirklich ein Sturm.“ Iris Minde, die im Fachausschuss des Städtetages und in ihrer Leipziger Klinik Sankt Georg ein Impfzentrum betreibt, sagt es so: „Der Ansturm ist enorm, und man wird förmlich überrannt.“ Das Wegschicken der Leute sei „sehr unangenehm, und oftmals entstehen auch Diskussionen“. Das Klinikum musste den Wachschutz einsetzen.

Lange Schlangen vor den Impfzentren

Vor den Impfzentren bilden sich lange Schlangen. Die einen wollen schnell einen Booster, die anderen sind das erste Mal da und wollen Fragen stellen. „Eine zwanzigminütige Beratung ist schwer mit dem Ziel zu vereinbaren, an einem Tag möglichst viele Menschen zu impfen“, sagt Goldhammer. Auch die Atmosphäre ist für viele ungewohnt. Der Hausarzt plaudert gerne mal, im Impfzentrum ist das anders. Da sagt ein Bürger vielleicht, dass er Gerinnungshemmer einnimmt und ob das ein Problem sei. Und weil die Impfärzte den ganzen Tag nichts anderes machen, kennen sie den Gerinnungshemmer ganz genau und auch die Antwort: Nein, kein Problem. Danach gibt es nicht mehr viel zu sagen, es muss ja weitergehen, aber den Leuten macht das manchmal Angst. Sie fühlen sich nicht ernst genommen, wenn das Gespräch kurz ist.

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Bei den Hausärzten wird die Zeit zum Plaudern auch immer knapper, die Arbeitszeiten von Anke Richter-Scheer lassen das erahnen. Sie steht morgens um sieben Uhr in ihrer Hausarztpraxis in Bad Oeynhausen mit allen ihren Mitarbeitern, und sie geht um 20 Uhr nach Hause. Dazwischen impft sie 240 Leute. Und immer kommen neue Patienten, die eine Spritze wollen, das sei „so nicht zu schaffen“. Neben ihrer Praxisarbeit ist Richter-Scheer auch Vorsitzende des Hausärzteverbandes Westfalen-Lippe, und sie impft in mobilen Teams des Landkreises mit. Sie kennt also das ganze Impfsystem und weiß, dass die Hausärzte noch viele andere Dinge tun. Es gibt viele Erkältungskranke, es wird auch gegen Grippe geimpft, die Wartezimmer sind voll. „Wir sind müde.“

Schuld an der Misere sei die Politik, sagt sie. Im Dezember ballt sich vieles, was auch früher hätte passieren können. Ein Beispiel sind die Sommerferien. „In den Ferien haben die Impfzentren leer gestanden, die Schüler wurden nicht geimpft, weil Politik und Ständige Impfkommission sich nicht auf eine Empfehlung einigen konnten.“ Unter den ungeimpften Jugendlichen sind die Inzidenzen momentan sehr hoch. Vieles davon hätte verhindert werden können.

Ein mobiles Impfzentrum in Lüneburg auf dem Marienplatz am 20. November

Ein mobiles Impfzentrum in Lüneburg auf dem Marienplatz am 20. November : Bild: dpa

Es gab mal Hunderte Impfzentren in Deutschland, es gab Impfstraßen in Messehallen, wo Tausende pro Tag durchströmten, aber die meisten von ihnen wurden vor wenigen Monaten zugemacht. Man könne so ein Impfzentrum nicht einfach über Nacht wieder aufbauen, sagt der Gesundheitsdezernent der StädteRegion Aachen, Michael Ziemons. Bei ihm war das Impfzentrum in der Eissporthalle. Da fahren jetzt Leute mit Schlittschuhen herum. Er könnte die Halle mieten, aber dann muss er das Eis abtauen, den Boden trocknen, die ganzen Aufbauten machen. Drei Wochen würde das dauern, hat Ziemons ausgerechnet, das ist zu langsam. „Ich kann den Bürgern nicht sagen: Komm in drei Wochen wieder, wenn du bis dahin infiziert bist, tut es mir leid.“

Nun sagen nicht wenige, es sei ein Fehler gewesen, die Impfzentren zu schließen. Die Sache ist aber nicht so einfach. Im Sommer standen die Impfzen­tren leer, die Miete, die Gehälter, alles wurde bezahlt. Und die Verbandsvertreter der Ärzteschaft liefen herum und sagten in jedes Mikrofon, die Hausärzte würden das schaffen, allen voran der Vorsitzende der Kassenärztliche Bundesvereinigung, Andreas Gassen. Für die Kommunen war das eine schwierige Lage. Ziemons sagt, es sei „absehbar gewesen, dass die Schließung der Impfzentren keine gute Idee ist“, allein schon wegen der Überlastung der Hausärzte durch Atemwegserkrankungen im Winter und wegen der Kinderimpfungen, die anstanden

Größte Kostentreiber waren die Ärzte selbst

Ziemons war immer ein bisschen gereizt, wenn er Ärztevertreter rechnen hörte, die Impfungen in den Zentren seien so teuer und die in den Arztpraxen so günstig. Das stimmte zwar, wenn die Auslastung in den Zentren schlecht war, deren größter Kostentreiber waren aber die Ärzte selbst, die in Aachen 150 Euro pro Stunde bekommen, ärztliche Leiter sogar 200 Euro. Die Honorare wurden von den Kassenärztlichen Vereinigungen verhandelt und waren so lukrativ, dass sie dort auch intern vergeben wurden. Ziemons richtete ein eigenes E-Mail-Postfach ein nur für Beschwerden von Ärzten, die keine Anstellung fanden, weil sie nicht über den Verband kamen.

Die Impfzentren waren also teuer und leer. „Da kann ich verstehen, dass Politik nicht mehr anders entscheiden kann, wenn die Ärzte beteuern, dass sie in einem normalen Herbst 20 Millionen Menschen gegen die Grippe impfen.“ Geht es nach Ziemons, haben die Ärzte eine Mitschuld an der Misere. Erst tönen sie, sie könnten alles ohne Impfzentren schaffen, und sind dann doch überfordert.

Das sehen Ärzte etwas anders. Für Richter-Scheer sind sie sogar ganz und gar unschuldig an der Lage. Schuld seien die ständig wechselnden Vorgaben von Bund und Ländern. Die Hausärzte leisteten hervorragende Arbeit, es gebe „signifikant tolle Zahlen“ an Impfungen in den Praxen. Aber wie die Bundesregierung in den vergangenen Wochen geredet habe, fühlte es sich für Ärzte an, als würden ihnen täglich neue Probleme bereitet. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn von der CDU sagte, die Boosterimpfung sei für alle, die Ständige Impfkommission sagte, sie sei nur für jene, deren Zweitimpfung sechs Monate her sei, also gab es Verwirrung und enttäuschte Patienten.

Manche Hausärzte schickten sie weg, andere impften jeden, der kam. Dann sagte Spahn, er liefere künftig weniger BioNTech-Impfstoff an die Hausärzte, damit die Vorräte an Moderna-Impfstoff aufgebraucht würden. Das klang für einige so, als würde ein Restaurantkoch sagen, er serviere erst mal die Kartoffeln vom Vorjahr, die noch im Keller liegen, bevor die Gäste die guten, frischen bekommen. Wieder gab es Proteste, verständnislose Patienten in der Praxis. „Wir müssen das Impfen höherfahren, aber das liegt nicht daran, dass die Hausärzte zu wenig impfen. Es ist mal wieder höhere Gewalt“, sagt Richter-Scheer.

Manchmal erwarten die Bürger zu viel, zu schnell. Sie hören etwas in einer Talkshow und denken, eine Stunde später sei das örtliche Impfzentrum schon auf alle Eventualitäten eingerichtet. Dabei hören die Kommunen manchmal selbst nur ungläubig, wie die neueste Losung aus Berlin lautet. Ziemons hat das erlebt, die „Vollkatastrophe“, wie er sagt. Als die Ständige Impfkommission empfahl, nach einer Erstimpfung mit AstraZeneca die Zweitimpfung mit einem anderen Impfstoff zu machen, erfuhr Ziemons das aus den Medien.

Sie drangen in die Impfkabinen ein

Eine Stunde später gab es schon Krawall in der Eissporthalle. Die Leute forderten wütend, nicht mehr mit AstraZeneca geimpft zu werden. Sie durchbrachen die Absperrungen, forderten, die Kühlschränke aufzumachen, wo der Impfstoff gelagert wurde. Sie drangen in die Impfkabinen ein und schimpften. Die Polizei kam. Seitdem hat Ziemons das Gefühl, die Großkopferten in Berlin wüssten gar nicht, was sie vor Ort anrichten können mit einem falschen Wort.

Neulich hat Spahn einen Brief an alle Kommunen geschrieben und sich entschuldigt. Nicht für die Sache mit AstraZeneca damals in Aachen, sondern dafür, dass er den BioNTech-Nachschub verringert hatte, damit die Moderna-Vorräte aufgebraucht werden. Spahn schrieb ausdrücklich, er wolle sich „entschuldigen“, die Kommunen seien in „nachvollziehbarer Weise verärgert“. „Die persönlichen Nachrichten, die mich erreichen, zeigen mir, wie groß der Frust und der Unmut ist“, heißt es in dem Schreiben vom Montag, das der F.A.S. vorliegt.

Ein Drive-In-Impfzentrum in der Lanxess-Arena in Köln, in der Tür stehen der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Hendrik Wüst und die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker

Ein Drive-In-Impfzentrum in der Lanxess-Arena in Köln, in der Tür stehen der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Hendrik Wüst und die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker : Bild: dpa

Er schrieb, das Aufbrauchen der Moderna-Reserven sei nicht das einzige Argument gewesen. Das viel gewichtigere: Die Bundesregierung hat nur noch zwei bis drei Millionen BioNTech-Dosen pro Woche. „Die Nachfrage“ sei „in den letzten zwei Wochen so stark gestiegen, dass sich unser zentrales BioNTech-Lager schneller leert als erwartet“, schrieb Spahn. Die Bürger haben keinen Nachteil. Eine Boosterimpfung mit Moderna hilft BioNTech-Geimpften sogar mehr, der Effekt ist größer.

Aber eine Bundesregierung, die im Winter 2021 immer noch Nachschubprobleme bei Impfstoffen hat, macht die Kommunen und Ärzte nicht zufrieden. „Es ist maximal ungeschickt, den Leuten zu sagen, sie sollen sich boostern lassen, ohne vorher die Strukturen zu schaffen und zu klären, ob man den Impfstoff hat“, sagt Ziemons. Und die Vorsitzende der Kassenärztliche Vereinigung Thüringen, Annette Rommel, sagt sogar: „Wenn ich so einen Schwachsinn mache, brauche ich mich nicht zu wundern, wenn die Leute sagen: Ich nehme keine Resterampe.“

In Thüringen gibt es keinen Streit, wer besser impft, die Hausärzte oder die Impfzentren, weil dort die Kassenärztliche Vereinigung für beides zuständig ist, für die Arztpraxen und die Impfzentren. „Wir haben nicht diese komische Konkurrenzsituation“, sagt Rommel. Einmalig sei das in Deutschland. Wegen ihrer Doppelrolle hat Rommel die Dinge schon oft anders beurteilt. Zum Beispiel als der Vorsitzende des Bundesverbandes, Gassen, tönte, die Hausärzte würden das alles schaffen. „Da haben wir immer gesagt: Seid vorsichtig. Das ist nicht wie eine Grippeschutzimpfung.“ Bei der Grippe fragt ein Patient nicht 25-mal nach, ob der Impfstoff ihn unfruchtbar macht. Rommel hat selbst eine Praxis und erlebt, was das Impfen bei Corona bedeutet. Sie stellt eine Mitarbeiterin ab, die den ganzen Tag nichts anderes macht, als Impftermine für Corona zu verwalten.

Der Leiter des Impfzentrums Treuen/Eich, Andy Feig, bei seiner Abschiedsrede am 30. September vor der Schließung des Impfzentrums.

Der Leiter des Impfzentrums Treuen/Eich, Andy Feig, bei seiner Abschiedsrede am 30. September vor der Schließung des Impfzentrums. : Bild: .

Es gibt aber auch Leute, die sagen, das Impfen sollte nicht nur von Ärzten übernommen werden, zum Beispiel der Präsident des Robert Koch-Instituts, Lothar Wieler. Der schimpfte diese Woche, die Ärzteverbände verhinderten eine schnelle Impfkampagne, weil sie nicht wollten, dass Tierärzte und Apotheker mitimpfen. Wieler, selbst Veterinärmediziner, fand es empörend, dass „bestimmte Interessengruppen das Eigeninteresse offenbar über das Gemeinwohl stellen“.

Rommel beantwortet das mit einem Vergleich. Sie besitzt Pferde. Und sie ist Humanärztin. Niemals käme sie auf die Idee, ihre Pferde zu behandeln, sie hätte das Gefühl, nicht zu wissen, wie das geht. Also ruft sie den Tierarzt. „Ich habe nichts gegen Tierärzte, aber Tierärzte sind Tierärzte.“

Kann ein Apotheker wissen, wann eine Impfung einfach ist?

Die Ärztin Goldhammer traut den Apothekern zu, jemanden zu impfen, bei dem die Impfung keine Probleme macht, aber sie traut Apothekern nicht zu, zu beurteilen, bei wem das so ist. „Dafür brauchen Sie jemanden mit einer Approbation.“

Wenn Iris Minde vom Leipziger Klinikum sich in der Adventszeit etwas wünschen dürfte, dann sind das nicht Tierärzte oder Apotheker, sondern ehrenamtliche Helfer. In einer Klinik gibt es genug zu tun, es sitzt niemand herum und wartet darauf, nebenbei ein Impfzentrum zu betreiben. Sie hätte gerne etwas Hilfe für das Impfzentrum in ihrer Klinik, damit der übrige Betrieb nicht darunter leidet. „Wir brauchen Ärzte, medizinisches Assistenzpersonal, Leute, die Sachen protokollieren, Einlassdienste, Wachdienste, Reinigungskräfte. Es ist nichts ausgeschlossen“, sagt Minde.

Der Gesundheitsminister von Rheinland-Pfalz, Clemens Hoch von der SPD, hat einen Vorschlag, wie die Schuldfrage zwischen Ärztevertretern und Politikern entschieden werden kann: Alle sind ein bisschen schuld. „Wir haben die Wucht der vierten Welle geringer und die Immunisierung durch die Impfung länger eingeschätzt“, sagt er. Manches, was schieflief, sei aber „verschüttete Milch“, also nicht mehr rückgängig zu machen. Für die Zukunft aber ist er „sehr zuversichtlich, dass das klappt, trotz aller Aufregung“.

In Rheinland-Pfalz haben neun Impfzen­tren schon wieder den Betrieb aufgenommen. Die Impfkampagne läuft an, auch ein Terminportal für die Kinderimpfungen ist in Arbeit. „Wir können das organisieren“, sagt Hoch, „wir kriegen das miteinander hin.“ Es ist ein Versprechen, das Hoch in jedem Fall halten kann: Alle werden geimpft. Die Frage ist nur, wie schnell.

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