Die vierte Corona-Welle nimmt in Rumänien dramatische Ausmaße an. Doch obwohl die Krankenhäuser am Limit sind und die Todeszahlen so hoch wie noch nie, hält sich eine hartnäckige Impfskepsis. Daran trägt auch die Kirche ihren Anteil.
"Lasst Euch nicht von dem täuschen, was Ihr im Fernsehen seht – habt keine Angst vor Corona." Diese Worte stammen nicht etwa aus einer Telegram-Gruppe von Attila Hildmann, sondern von einem der wichtigsten Wortführer der orthodoxen Kirche in Rumänien. Mitte Oktober, als sich die vierte Welle in dem osteuropäischen Land bereits anbahnte, predigte der erzkonservative Bischof Ambrose von Giurgiu: "Lasst euch ruhig Zeit mit der Impfung."
Die Worte des Bischofs fallen besonders bei der strenggläubigen ländlichen Bevölkerung auf fruchtbaren Boden. Worte, die nicht nur strafrechtlich relevant sein können, sondern im schlimmsten Fall auch lebensbedrohlich.
Rumänien hat – gemessen an seiner Bevölkerung – mittlerweile die höchste Corona-Todesrate der Welt und liegt damit noch vor den USA, Indien und Brasilien. Vergangenen Dienstag starben innerhalb von 24 Stunden rund 600 Menschen an oder mit einer Covid-19-Erkrankung, der höchste Wert seit Beginn der Pandemie. Im Verhältnis zur Bevölkerung liegt die Sterbeziffer fast siebenmal so hoch wie in den Vereinigten Staaten und fast 17 mal so hoch wie in Deutschland.
Ärztin: "Diese Welle ist viel schlimmer als die anderen"
Schon vor einem Monat zeichnete sich ab, in welche Katastrophe Rumänien hineinschlittert. Bereits Anfang Oktober begannen die Infektionszahlen in die Höhe zu schnellen und es dauerte nicht lange, bis die ersten Krankenhäuser wieder Alarm schlugen. Geleakte Videoaufnahmen zeigten überfüllte Patientenzimmer, Ambulanzwagen, die vor den Kliniken Schlange stehen, während ständig Leichen in schwarzen Plastiksäcken über die Flure gefahren werden. Was die Situation für Ärzte und Pflegekräfte besonders schwierig macht, ist das Wissen, dass dieses Ausmaß hätte vermieden werden können.
"Diese Welle ist viel schlimmer als die anderen – es ist wie im Krieg", berichtet die Bukarester Ärztin Dr. Anca Streinu-Cercel der "New York Times". "Wir gehen auf unsere Stationen, wissen aber nicht, wann wir herauskommen." Und der einzig wahre Grund, warum jemand hier sei, ist, weil er nicht geimpft wurde, so Streinu-Cercel. Die offiziellen Zahlen sprechen dafür: Mehr als 90 Prozent der Corona-Toten sind Ungeimpfte. Ähnlich frustriert ist auch Silvia Nica, leitende Notärztin am Universitätsklinikum in der Hauptstadt. "Jeder ist plötzlich Experte und Fake News sind überall, 24 Stunden am Tag", klagt sie der US-Zeitung. "Ich hätte nie gedacht, dass dieses Virus so lange bleiben würde. Wir sind alle erschöpft."
Obwohl Rumänien zunächst gut mit den Impfungen vorankam, liegt das Land im europäischen Vergleich mittlerweile auf dem vorletzten Platz. Gerade einmal rund 44 Prozent der Erwachsenen haben mindestens eine Dosis erhalten, schlechter dran ist nur Bulgarien mit 29 Prozent. Zum Vergleich: Die durchschnittliche Impfquote liegt in der EU bei 81 Prozent, mehrere Länder – wie Portugal und Spanien –haben bereits die 90 Prozent geknackt.
Tiefes Misstrauen historisch verankert
Doch nicht nur in Rumänien hält eine hartnäckige Impfskepsis die Menschen von der Spritze ab, in Russland, der Ukraine und Lettland sieht die Lage nicht viel besser aus. Was die Länder im Osten Europas verbindet, ist ihre gemeinsame kommunistische Vergangenheit –und eine weit verbreitete Ernüchterung über die daraus folgende politische Unordnung und Korruption.
"Falschinformationen haben einen großen Einfluss auf unsere Bevölkerung und auf Osteuropa allgemein", meint auch Valeriu Ghorghita, Offizier der rumänischen Armee und Leiter der Impfkampagne. Unter Führern wie Nicolae Ceausescu, dem langjährigen Diktator Rumäniens, der 1989 gestürzt und hingerichtet wurde, "vertraute niemand seinen Nachbarn, niemand vertraute den Behörden, niemand vertraute irgendjemandem", sagte Oberst Ghorghita der "NY Times".
Die Folgen dieses tiefverwurzelten Misstrauens machen sich in Zeiten der Pandemie besonders bemerkbar. Viele Menschen sind äußerst misstrauisch gegenüber den Impfempfehlungen der Regierung und hören lieber auf selbsternannte Experten im Internet, die das Gegenteil raten. Tragisch ist, laut Ghorghita, dass die am stärksten gefährdete Bevölkerungsgruppe – die Älteren – am schwersten zu überzeugen sind. Nur 25 Prozent der Menschen über 80 seien geimpft.
Kirche heizt Impfskepsis weiter an – vor allem auf dem Land
Da hilft es auch wenig, dass die orthodoxe Kirche – die nach dem Militär als am vertrauenswürdigste Institution in Rumänien gilt – sich nicht kollektiv und klar für Impfungen einsetzt. Während der Patriarch in Bukarest die Menschen auffordert, sich ihre eigene Meinung zu bilden und auf die Ärzte zu hören, prangern einflussreiche Bischöfe, wie Ambrose von Giurgi, und viele lokale Kleriker Impfstoffe als "Werk des Teufels" an.
Besonders groß ist der Einfluss der Kirche in den ländlichen Gebieten, was sich auch in der Impfquote widerspiegelt. Im Gegensatz zu Großstädten wie Bukarest, wo mehr als 80 Prozent der Erwachsenen mindestens erstgeimpft sind, wurden dort weniger als die Hälfte an Spritzen verteilt. In Copaceni, einem ländlichen Landkreis südlich der Hauptstadt ist das Krankenhauspersonal entsetzt über die Anti-Impfkampagne von Bischof Ambrose. "Ich kämpfe jeden Tag dafür, dass Leute geimpft werden und dann kommt er und sagt ihnen, sie sollen es nicht tun", berichtet eine leitende Ärztin der "NY Times".
Doch es wäre zu einfach den Buhmann alleine der Kirche zuzuschieben. Auch prominente Politikerinnen und Politiker heizen die Impfskepsis weiter an. Eine von ihnen ist die rechte Parlamentsabgeordnete Diana Șoșoacă, die die Pandemie als "größte Lüge des Jahrhunderts" bezeichnete, Anti-Masken-Demos veranstaltete und sogar die Öffnung eines Impfzentrums blockieren ließ. Den größten Einfluss hat Sosoaca im Netz, wo ihr auf ihren Social-Media-Kanälen Millionen von Menschen folgen. Diese Mischung aus einflussreichen Persönlichkeiten aus Kirche und Politik hilft zu erklären, wieso sich die Impfskepsis in Rumänien so hartnäckig hält und durch die sozialen Medien noch verstärkt wird.
Mittlerweile hängen im Stadtzentrum von Bukarest riesige Plakate mit Fotos von schwerkranken Corona-Patienten. Die Bilder sollen den Menschen den Ernst der Lage verdeutlichen. Eine Überschrift lautet: "Sie ersticken. Sie betteln. Sie bedauern."
Quellen: "NY Times", "Spiegel" (€), Our World in Data, ECDC
Corona-Hotspot Rumänien: Hohe Impfskepsis und so viele Tote wie noch nie - STERN.de
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