Warum ist in der deutschen Hauptstadt alles so chaotisch? Die Ebenen der Verwaltung blockieren sich gegenseitig, doch der Veränderungswille ist begrenzt – auf Kosten der Bürger.
Sie können keinen Flughafen bauen und keine Wahl organisieren, ihren Bürgern keine Behördentermine anbieten und ihrer Justiz keine elektronische Akte: Die Verantwortlichen in der deutschen Hauptstadt scheitern offenkundig an grossen Aufgaben genauso wie an kleinen. Berliner Bürger können sich gar nicht rechtstreu verhalten, selbst wenn sie wollten. Binnen zwei Wochen nach dem Umzug muss die Meldung auf dem Einwohneramt erfolgen – theoretisch. Praktisch gibt es dafür nicht einmal in zwei Monaten einen Termin. Warum ist das so, und warum scheint es in Berlin im Bundesvergleich ganz besonders chaotisch zuzugehen?
«Das war schon immer so» ist hierbei keine zufriedenstellende, dennoch aber eine teilweise zutreffende Antwort. Zumindest wenn man die letzten 100 Jahre betrachtet. «Chaos und Aufbruch» hiess kürzlich eine Ausstellung im Stadtmuseum, die sich eben damit befasste. Im Internet lassen sich Ausstellungsteile noch besichtigen. Man könnte sagen: Den «Chaos»-Teil des Ausstellungstitels hat man in Berlin beherzigt, nur bis zum «Aufbruch» ist man noch nicht gelangt. Und die meisten Beobachter gehen auch nicht davon aus, dass sich das bald ändert. Im Chaos hat man sich hier nämlich ganz gut eingerichtet.
Die letzte grosse Reform der Verwaltung ist unter dem Namen Stein-Hardenbergsche Reformen als «Revolution von oben» in die Geschichtsbücher eingegangen. Das Denkmal des Freiherrn vom Stein steht mahnend und ermunternd vor dem Preussischen Landtag, Sitz des Berliner Landesparlaments, des Abgeordnetenhauses. Ach, Preussen! Die schlanke, energische, effiziente, moderne Verwaltungsmaschine, vor deren gnadenloser Effizienz die Welt zu Recht gezittert hat und die in vielen ihrer Kernideen von Ländern wie den USA und Japan übernommen wurde – sie ist nur eine längst verblasste Erinnerung. Was früher Preussen war, ist heute Singapur oder Estland.
Ein Bezirk verhindert einen Radweg
Vor ziemlich genau 100 Jahren – am 1. Oktober 1920 – entstand aus vielen einzelnen Städten eine einzige: Gross-Berlin. Mit einem Streich wurden 27 Gutsbezirke, 59 Landgemeinden und sieben eigenständige Städte nach Berlin eingemeindet. Die Stadt hatte schlagartig 3,8 Millionen Einwohner, mehr als heute. Heute sind es gut 3,6 Millionen. 20 Bezirke hatte die neue Kommune. Endlich konnte man eine einheitliche Verkehrs- und Stadtplanung machen und auch die Lebensverhältnisse einander annähern. Das Gross-Berlin-Gesetz war die Grundlage für die Stadt von heute. Die Zustimmung der Eingemeindeten zu dem Gesetz gab es gegen das Versprechen, dass sie eine gewisse Eigenständigkeit behalten. Damit wurden die heutigen Probleme angelegt.
Nach NS-Diktatur, Krieg, Teilung und Wiedervereinigung war eine grössere Reform nötig, weil die östlichen Bezirke nun in das Stadtgebilde eingegliedert werden mussten. Seit 2001 hat die deutsche Hauptstadt zwölf Bezirke. Die Verwaltung ist zweistufig aufgebaut: Die Landesregierung, der Senat, kümmert sich um die gesamtstädtischen Belange, die Bezirke um die Bezirksangelegenheiten. Also – theoretisch.
Was aber nun, wenn eine grosse Hauptstrasse durch mehrere Bezirke führt und einen Radweg bekommen soll? «Dann hat es gesamtstädtische Bedeutung und wird vom Senat erledigt» – könnte man annehmen. Dem ist aber nicht so. In Berlin entscheiden dann die Bezirke, und wenn nur einer von ihnen nicht will, dann gibt es keinen Radweg. Die politische Führung, in diesem Falle die Verkehrssenatorin, kann nur zuschauen. «Ein Durchgriffsrecht der Hauptverwaltung aufgrund gesamtstädtischer Bedeutung gibt es bei Radwegen nicht – wenn ein Bezirk sie also weder plant noch baut, aus welchen Gründen auch immer, können wir aktuell nichts tun, ausser dies zu kritisieren», bestätigt ihr Sprecher Jan Thomsen.
30 Tage Ferien und 40 Tage krank
Ein anderes Beispiel: Lüftungsgeräte für Schulen. Die ganze Welt leidet unter einer Pandemie, die Schulen machen zu, sie wollen ihre Klassenräume mit Luftfiltergeräten ausstatten, um nach Wiedereröffnung die Kinder vor einer Corona-Infektion zu schützen. Zuständig sind die Bezirke. Was tun sie? Sie bereiten umständlich eine Ausschreibung vor, jeder für sich, der eine schneller, der andere langsamer. Manche haben knapp ein Jahr nach Pandemiebeginn die Ausschreibung noch immer nicht fertig. Nach monatelangem Chaos beschliesst der Senat, die Geräte zentral zu beschaffen. Bis dahin ist der Weltmarkt abgegrast. In den Schulen sind vor dem zweiten Corona-Winter immer noch nicht ausreichend Geräte angekommen.
Umständlichkeit, Langsamkeit, gegenseitige Blockade und Mangel an Ergebnisorientierung sind in Berlin eine verheerende Symbiose eingegangen mit Veränderungsresistenz, Verantwortungslosigkeit und Folgenlosigkeit von Fehlverhalten. Schlechtleistung hat keine Folgen. Vor vier Jahren legte ein früherer Staatssekretär für Inneres ein Attest vor, dass er im Untersuchungsausschuss zum Terroranschlag am Breitscheidplatz wegen Krankheit nicht zur Aussage erscheinen könne, zwei Tage später lief er den Berlin-Marathon mit. Es wird einfach hingenommen.
Die Mär von der Personalnot
«Wir sind total unterbesetzt», stöhnt es seit Jahren aus den Amtsstuben, aber das stimmt so nicht. Ein Blick in die Statistik zeigt es. Danach kommt in Berlin auf 12,6 Einwohner ein öffentlich Bediensteter. In Hamburg müssen sich demgegenüber 14,2 Bewohner einen öffentlichen Diener teilen, und in Ländern wie Baden-Württemberg oder Bayern sind dies sogar über 16 Einwohner. Fast scheint es, als wäre nicht die Unter-, sondern die Überbesetzung ein Problem der öffentlichen Verwaltung in der Hauptstadt. Gelindert wird dieses dadurch, dass die öffentlich Bediensteten zusätzlich zu ihren 30 Tagen Ferien im Durchschnitt (!) 40 Tage krank sind – Angestellte im Schnitt 32 Tage, Beamte sogar 42 Tage. Gern wird auch zur Kur gefahren.
Das alles legt den Schluss nahe, dass das grössere Problem in der einstigen preussischen Hauptstadt nicht die Anzahl der Beschäftigten, sondern deren «innere Führung» und individuelle Haltung ist. «Der Leistungsgedanke in der Verwaltung ist nicht tot, bloss verschüttet», meint optimistisch der parteilose Noch-Abgeordnete Marcel Luthe. Luthe ist in Berlin sehr bekannt, zum einen, weil er im Abgeordnetenhaus eine Rekordzahl an parlamentarischen Anfragen gestellt hat, zum anderen, weil seine Fraktion ihn aufgrund eines «zerrütteten Vertrauensverhältnisses» vor einem Jahr ausschloss und er daraufhin aus seiner Partei, der FDP, austrat. Luthe führte sodann die Freien Wähler in den Wahlkampf, verpasste aber mit ihnen den Einzug ins Parlament. Ab dem 4. November hat er kein Mandat mehr. Über alles, was er in seiner Abgeordnetenzeit herausgefunden hat, hat er ein Buch geschrieben: «Sanierungsfall Berlin». Im Ton eines zunächst noch staunenden Parlamentsneulings beschreibt er darin seinen Entschluss zur Ruhestörung und dessen Folgen.
Im Vorwort heisst es: «Aus sozialistischer Sicht ist Berlin eine Erfolgsgeschichte: Durch die (. . .) erfolgreich verlangte Zuweisung von Flüchtlingen ist es nicht nur gelungen, die Wohnungsknappheit massiv zu verstärken, sondern der Senat hat durch die Anmietung von Privatwohnungen zum Zweck der Unterbringung von Flüchtlingen – etwa eine möblierte 44-m2-Wohnung für 6000 Euro monatlich – zugleich erfolgreich die Preise für Wohnraum angeheizt. Diese hausgemachte Anhebung der Nachfrage – mit praktisch unbegrenzten finanziellen Mitteln – einerseits und die stetige Verteuerung von Bauprojekten durch staatliche Vorgaben zur Bauausführung andererseits führen zu einer weiteren Preissteigerung und damit dazu, dass immer mehr Angehörige der Mittelschicht immer weiter verarmen und ebenfalls staatliche Leistungsempfänger werden.»
Postenschacher im Hinterzimmer
Der Unternehmensberater Michael Garmer hält diese Passage zwar für übertrieben, einen wahren Kern enthalte sie aber doch, insbesondere was die Wohnungspolitik betreffe. Die Linke habe kein Interesse an einer baldigen Lösung des Wohnungsproblems. Garmer sass nur eine Legislaturperiode für die CDU im Landesparlament, von 2011 bis 2016. Mit der Verwaltung Berlins hat er sich eingehend befasst mit dem Ziel, sie zu verändern. Sein Fazit: Es sind drei Kernpunkte, die jeden Fortschritt in Berlin verhindern. Erstens: der schon erwähnte Mangel an Durchgriffsrechten des Senats. «Die Bezirke sind nachgeordnete Verwaltungseinheiten, führen sich aber auf wie selbständige Gebietskörperschaften», sagt Garmer. «Das können sie schon mangels eigener Einnahmen gar nicht sein.» Die kommunale Ebene, das sei der Senat. Dieser sei gegen die Bezirke derzeit aber nicht handlungsfähig: «Da muss ein Weisungsrecht her.»
Zweitens trügen die Parteistrukturen zu der Machtballung auf Bezirksebene bei. Die Kreisvorsitzenden seien die eigentlich Mächtigen, und wer sich in den Hinterzimmern durchsetze, der komme als Kandidat auf die Wahlliste. «Ich war selbst im Hinterzimmer», sagt Garmer. Der Vorgang der Kandidatenkür müsse demokratisiert werden.
Und drittens: Zumindest die Posten der Verwaltungsleiter müssten durch Bestenauslese besetzt werden. Ein Blick nach Bayern zeige: Viele Amtsleiter hätten dort kein Parteibuch, sagt Garmer. Sie seien stolz darauf, dass sie durch Leistung auf ihre Position gekommen seien. Selbst wenn die politische Ebene obendrüber dann ausfällt, läuft der Laden trotzdem. In Berlin gebe es die Trennung zwischen politischer Leitung und Verwaltungsleitung nicht. Wer nie Mitarbeiter geführt habe, der sei der Aufgabe nicht gewachsen. «Wenn so ein Apparat über Jahre und Jahrzehnte unprofessionell geführt wird, dann richten sich die Mitarbeiter darin ein, und die Engagierten, die etwas leisten wollen, werden ausgebremst und landen im Burnout.» Der hohe Krankenstand sei eine Folge des Führungsversagens. Man habe den Beschäftigten das Arbeiten regelrecht abgewöhnt.
In die selbstgebaute Falle gegangen
Einer, der es wissen muss, ist Frank Nägele, Staatssekretär für Verwaltungsmodernisierung in der Senatskanzlei. In einem Gastbeitrag für den «Tagesspiegel» beschrieb er kürzlich die Gemengelage. Darin fand sich der Satz: «Für die öffentliche Verwaltung entscheiden sich häufig Menschen, die Veränderung nicht unbedingt als bereichernd empfinden.» Es seien nicht die agilen Innovatoren, die sich beruflich für den öffentlichen Dienst entschieden. Berlin stecke zudem in der «Komplexitätsfalle». Nur dass diese angebliche Komplexität hausgemacht ist – durch jahrzehntelange politische Fehlsteuerung, explizite parteipolitische Versorgungsmentalität und konsequente Privilegienakkumulation seitens der Verwaltungsorgane.
Jede Stadtregierung der vergangenen zwei Jahrzehnte hat eine umfassende Verwaltungsmodernisierung angekündigt, nie ist etwas daraus geworden. Wer Risiken eingeht, zu Fehlern steht, Verantwortung übernimmt, kurz: Wer etwas bewegen will im Sinne der Bürger, dem wird zudem von seinen Kollegen schnell vermittelt, er solle mal das Tempo rausnehmen und hier nicht die Preise verderben.
Corona hat als Krise nicht gereicht
Bei alledem bringt die Hauptstadt die Probleme der gesamten Republik besonders klar und pointiert auf den Punkt. Vielleicht ist es vielen aus Erleichterung schon entfallen: Es war in der Bundesrepublik leichter, eine Bevölkerung von mehr als 80 Millionen Einwohnern in einen «Lockdown» genannten Hausarrest zu schicken, da die Gesundheitsämter ab einer Inzidenz von 50 mit der Kontaktverfolgung nicht mehr nachkämen, als die 460 Gesundheitsämter der Republik mit einer einheitlichen, effizienten und vernetzten Software zur Kontaktverfolgung auszustatten – obwohl diese Software bereits fix und fertig zum Roll-out bereitstand.
Was folgt daraus? Als Stein und Hardenberg von 1807 bis 1815 als Minister unter König Friedrich Wilhelm III. ihre «Revolution von oben» durchzogen, befand sich der Staat Preussen nach der Niederwerfung durch Napoleon im Jahr 1806 kurz vor der Auflösung. Die Krise ermöglichte es, das Reformprogramm umzusetzen. Andere Länder wie Estland haben zwischendurch ebenfalls tiefgreifende Umbrüche erlebt, die es ihnen ermöglichten, ihre Verwaltung komplett neu zu ordnen (und viele Altlasten loszuwerden). Corona scheint – trotz eklatantem und offensichtlichem Staatsversagen – nicht die Krise gewesen zu sein, die es gebraucht hätte, um gegen die Beharrungskräfte der deutschen und der Berliner Verwaltung anzukommen. Die andere Frage ist, wo heute die Steins und Hardenbergs sind, die die Konzepte für eine neue «Revolution von oben» vorbereiten.
Wieso, läuft doch: Im dysfunktionalen Zustand Berlins haben sich viele gut eingerichtet | NZZ - Neue Zürcher Zeitung - NZZ
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