Gespannt blicken nicht nur die Menschen in Deutschland auf die Bundestagswahl. Auch die internationale Presse zieht Bilanz der Merkel-Ära und schaut voraus.
Am morgigen Sonntag wählt Deutschland den neuen Bundestag. Es könnte dauern, bis feststeht welche Koalition das Land künftig regieren wird und wer als nächster ins Bundeskanzleramt einzieht. Nachdem die SPD mit ihrem Kanzlerkandidaten Olaf Scholz lange recht deutlich vor den Union lag, konnte CDU-Chef Armin Laschet zuletzt aufholen. Es deutet sich ein „Wimpernschlagfinale“ an, wie der CSU-Vorsitzende Markus Söder es formulierte – bei dem die FDP mit Parteichef Christian Lindner Königsmacher werden könnte.
Oder wird es am Ende doch Rot-Grün-Rot? Und wie schneidet die AfD ab? Klar scheint lediglich, dass sich die Grünen mit ihrer Spitzenkandidatin Annalena Baerbock wohl kaum noch Hoffnung machen können, stärkste politische Kraft im Land zu werden – wenn es nicht zu einer ganz großen Überraschung kommt.
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Mit der Wahl geht auch die 16-jährige Ära von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zu Ende. Die Mehrheit der Bundesbürgerinnen und Bundesbürger wird sie einer Umfrage zufolge nicht vermissen: 52 äußerten sagten in einer Befragung des Meinungsforschungsinstituts Civey im Auftrag der „Augsburger Allgemeinen“, Merkel werde ihnen nicht fehlen. 38 Prozent der Befragten werden die aktuelle Bundeskanzlerin demnach vermissen, der Rest war unentschieden.
Wie aber blickt das Ausland auf die Bundestagswahl und auf Merkels Kanzlerschaft? Was erwartet Europa und die Welt von einer neuen Bundesregierung. Ein Ausschnitt internationaler Pressestimmen der vergangenen Tage:
„De Volkskrant“ (Niederlande): „Merkels Politik war in der Welt nach dem Fall der Mauer verwurzelt. Einer Welt, die nicht mehr existiert. Eine neue Ära erfordert jedoch eine neue Ausrichtung. Für ein Deutschland, das mehr in seine Infrastruktur und in seine Menschen investiert. Ein Land, das sich weniger von Handelsinteressen als vielmehr von der Notwendigkeit europäischer geopolitischer Autonomie in einer immer unsicherer werdenden Welt leiten lässt.
Ob Deutschland nach Merkel mit dem 'Merkelismus' brechen wird, ist sehr fraglich. Der Wahlkampf stand nicht im Zeichen großer Veränderungen. Wahrscheinlich wird die nächste Koalition aus sehr unterschiedlichen Parteien bestehen, die sich gegenseitig neutralisieren. In diesem Fall wird Deutschland weiterhin eine Politik à la Merkel betreiben, aber mit einem Kanzler, der weniger Erfahrung und Format hat.“
„De Standaard“ (Niederlande): „Im Wahlkampf des Kanzlerkandidaten der Christdemokraten hat es einige Ausrutscher gegeben, die seine Glaubwürdigkeit beeinträchtigt haben. Seine Kampagne wurde von den Überschwemmungen überrollt. Das Klima schien plötzlich das Wahlkampfthema zu sein, während genau dieses Thema seine Achillesferse ist; er musste sich bei den Opfern abrackern, obwohl er lieber hinter den Kulissen an Kompromissen und Lösungen arbeitet.
Sein ungeschickter Auftritt (im Flutgebiet) verfolgt ihn bis heute, und der Weg zur Kanzlerschaft verläuft nicht so glatt, wie er das – als erfolgreicher Ministerpräsident des wichtigsten Bundeslandes Nordrhein-Westfalen – erwartet hatte. (...) Lange Zeit präsentierte sich Laschet als Merkels Nachfolger, als der Mann, der ihre Politik ohne Bruch fortführen würde.
Doch als er in den Umfragen hinter Olaf Scholz zurückfiel, setzte er im Wahlkampf andere Akzente: mehr Sicherheit, weniger Steuern. Laschet distanziert sich von den Kanzlerkandidaten der Roten und Grünen, die einander gefunden zu haben scheinen. Er warnt vor den Folgen, sollten sie an die Macht kommen. Das, so sagen alle Analysten, ist ein Zeichen von Schwäche.“
Die wichtigsten Tagesspiegel-Artikel zur Bundestagswahl 2021:
„Corriere della Sera“ (Italien): „Was das aus europäischer Sicht bedeutet, ist schwer zu sagen. Und das nicht nur deswegen, weil die Außen- und Europapolitik so abwesend war im Wahlkampf, außer bei Baerbock und den Grünen. Sowohl mit Laschet als auch mit Scholz wird es ganz generell Kontinuität geben. Aber der nächste deutsche Kanzler muss sich mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt beschäftigen, der wegen der Pandemie ausgesetzt ist.
Die Rückkehr zur Sparpolitik steht bereits in Aussicht und mit einer Regierung unter der Führung von CDU/CSU, vielleicht mit den Liberalen im Finanzministerium, könnte sie auch gelingen. Auch Scholz sagt eigentlich, dass man nach 2022 die alte Finanzdisziplin wieder herstellen müsse. Aber der sozialdemokratische Kandidat war auch derjenige, der den EU-Wiederaufbaufonds, die Vergemeinschaftung der Schulden, als „Hamilton-Moment“ bezeichnet hat. Sein Europa wäre sicher viel solidarischer.“
[Lesen Sie bei T Plus: Die Macht der Sonntagsfrage: Entscheidet die Demoskopie auch Wahlen?]
„Nepszava“ (Ungarn): „Sie war nicht allmächtig. Mit den „Illiberalen“ (in Europa) vermochte sie nichts anzufangen. Obwohl sie selbst lange Zeit hinter dem Eisernen Vorhang gelebt hatte, war sie unfähig zu begreifen, wie Ungarn und Polen dazu imstande sind, all das zu zerstören, wofür die beiden (ex-kommunistischen) Länder so lange gekämpft hatten. (...) Dennoch besteht kein Zweifel, dass sie eine große Leere hinterlässt, egal, ob der nächste Kanzler Armin Laschet oder Olaf Scholz heißen wird. Deutschland darf sich jedoch von Merkels Erbe nicht abwenden. Die EU steht weiterhin vor enormen Herausforderungen. Ohne Berlin sind sie nicht zu bewältigen.“
„Times“ (Großbritannien): „Das Beste, was man über ihre Art der Staatsführung sagen kann, ist, dass sie geholfen hat, Europa durch eine Reihe von Krisen zu steuern. Insbesondere war sie maßgeblich daran beteiligt, in nächtlichen Gipfeltreffen eine Reihe von Rettungspaketen zu schnüren. (...)
Trotz all ihrer Schwächen verlässt sie ihr Amt nach 16 Jahren mit einer Zustimmungsrate, um die sie jeder Regierungschef der Welt beneiden würde. Viele werden ihren sturen, rationalen Pragmatismus vermissen, nicht zuletzt, wenn die nächste Krise kommt. Ihr vielleicht größtes Vermächtnis ist, dass sie den Aufstieg Deutschlands nach der Wiedervereinigung zu einer unbestrittenen Vormachtstellung in Europa geleitet hat, doch die Partner des Landes in der ganzen Welt wünschten sich eine stärkere deutsche Führung. Leider gibt es kaum Anzeichen dafür, dass ihr Nachfolger dies tun wird.“
„Guardian“ (Großbritannien): „Eine Kultur der Sühne für die Vergangenheit hat dazu geführt, dass Deutschland sich der Gründungsmission der EU – Frieden und Wohlstand durch grenzüberschreitende Integration – besonders verpflichtet fühlt. Für die kleineren Mitgliedsländer hat sich das manchmal wie eine Integration zu Bedingungen angefühlt, die von Berlin diktiert wurden, insbesondere wenn es um Haushaltseinsparungen geht.
Europäische Solidarität ist der Schlüssel zur deutschen Außenpolitik, aber die Abneigung gegen öffentliche Schulden ist ihr heiliges wirtschaftliches Credo. Das hat zu einer unbequemen Diplomatie innerhalb der Eurozone geführt. (...)
Die Ära Merkel war, wie auch immer, ein Triumph der Neutralisierung von Krisen – ohne sie wirklich zu lösen. Angesichts des Ausmaßes dieser Herausforderungen kommt dieses Hinauszögern zwar einer Errungenschaft gleich, aber es ist ein zwiespältiges Erbe, das ihrem Nachfolger viele Probleme aufbürdet und existenzielle Fragen zur Zukunft Europas unbeantwortet lässt.“
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„Wall Street Journal“ (USA): „Deutschlands nächster Regierungschef muss die wirtschaftliche Erholung von der Pandemie steuern, die Beziehungen zu Washington nach dem Afghanistan-Debakel wiederherstellen, sich mit Russlands strategischem Treiben herumschlagen und eine angespannte wirtschaftliche und strategische Beziehung zu einem China lenken, das zunehmend mit dem Westen in Konflikt steht.
Frau Merkel hat die beiden letztgenannten Herausforderungen in den Sand gesetzt und außer in den schweren Krisenzeiten der Eurozone nur selten eine starke wirtschaftliche Führungsrolle übernommen. Bei keinem der drei Hauptanwärter (auf ihre Nachfolge) sieht es sehr viel anders aus. (...)
Die deutschen Wähler scheinen diese Stabilität als eine Tugend zu betrachten, was ein Grund dafür sein muss, dass sie Frau Merkel so oft wiedergewählt haben, wie sie es getan haben. Das macht die Wahl am Sonntag zu einem Sonderfall, da in den meisten großen Demokratien ein größerer politischer Wettbewerb und kühnere politische Schachzüge von Linken und Rechten zu beobachten sind. Für den Moment scheinen die deutschen Wähler damit zufrieden zu sein, aus dem langen Schatten von Frau Merkel herauszustolpern.“
„Neue Zürcher Zeitung“ (Schweiz): „Das Worst-Case-Szenario, man kann es nicht freundlicher formulieren, wäre ein rot-grün-dunkelrotes Bündnis aus SPD, Grünen und Linkspartei. Sollte es für ein solches Trio reichen, dann wird der Druck der Basis aus allen drei Parteien gewaltig sein, die „historische Chance“ auf einen grundlegenden Politikwechsel nicht verstreichen zu lassen.
Die Republik würde in der Folge ein wahres Festival an Steuererhöhungen, planwirtschaftlicher Regulierung und autoritärer Gesellschaftspolitik erleben, mit großzügigen Zuwendungen an staatsnahe linke Vereine und Gruppierungen und Kampfansagen an alle, die unter liberaler oder konservativer Flagge segeln.“
„Tages-Anzeiger“ (Schweiz): „Am sensationellen Aufstieg der Partei an die Spitze der Umfragen hatte die linke Führung in den letzten Wochen dann durchaus ihren Anteil – nämlich, indem sie hinter dem Kandidaten Scholz vollkommen verschwand. Von Esken oder Kühnert war so gut wie nichts zu hören, und schon gar nie ein kritisches oder böses Wort. Kein linker Zwischenruf sollte die Mitte-Botschaft des möglichen nächsten Kanzlers stören. (...)
Gewinnt die SPD die Wahl, wissen auch die Linken, dass sie dies nicht ihrem Programm, sondern vor allem dem überzeugenden Kandidaten verdanken. Das dürfte Scholz fürs Erste etwas Beinfreiheit verschaffen.
Doch schon bei der Frage nach der richtigen Koalition dürften die ideologischen Gräben schnell aufbrechen. Kühnert und Esken haben in der Vergangenheit immer wieder für eine Regierung mit Grünen und Linkspartei geworben – die gängigen Chiffren dafür lauten „progressives Bündnis“ oder auch „Regierung jenseits der Union“. Einer Zusammenarbeit mit der Steuersenkungspartei FDP blicken Genossen wie sie nicht mit Skepsis, sondern mit Grausen entgegen.“
„Dagens Nyheter“ (Schweden): „Angela Merkel hat eine beachtliche Reise aus der alten DDR bis zur mächtigsten Frau der Erde hingelegt, die noch dazu zu den Politikern zählt, die global das größte Vertrauen genießen. Während ihrer Zeit als Kanzlerin hat Deutschland so stabil gewirkt, ein Anker in einer unsicheren Welt, mit niedriger Arbeitslosigkeit und einer unschlagbaren Exportmaschine. Und sie ist nach wie vor beliebt, ihre Zustimmungswerte weit über denen von all ihren denkbaren Nachfolgern.
Es ist aber auch Zeit zu fragen, was Europas ungekrönte Königin zustandegebracht hat. Niemand kann so lange Bundeskanzlerin sein ohne Fingerspitzengefühl, denn Politik ist immer auch die Kunst des Möglichen, und nicht alles ist umsetzbar. In ihrer Karriere gibt es auch eine Dualität, eine Rückseite der Stärke, ein Zögern bei schwierigen Entschlüssen, eine Tendenz, eher zu reagieren als zu regieren. Die Bilanz hat viele Plus-, aber auch Minuspunkte.“
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„Dagbladet“ (Norwegen): „Das schlechteste Erbe von Merkel ist der Mangel an Digitalisierung der Gesellschaft und Modernisierung des öffentlichen Sektors. Deutschland liegt in der EU beim Ausbau von Glasfaserkabeln hinten, bei der Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung auf einem Niveau mit Bulgarien. Um sich an Behörden zu wenden, darf man gerne körperlich erscheinen oder einen Brief auf Papier schicken. Die Bundesregierung hat mehr als 900 Faxe in Gebrauch, im Büro von Merkel wird Rohrpost benutzt.
Als Deutschland im März 2020 die Schulen schloss, waren die Lehrer nicht imstande zum Fernunterricht der Schüler. Deutschland ist Europas stärkste Wirtschaft, in der digitalen Welt aber so weit hinten dran. Hier muss der nächste Bundeskanzler kräftig anpacken. Wird es Olaf Scholz, kann der auf Studienreise in den Norden gehen, wo seine sozialdemokratischen Freunde bald sämtliche Länder regieren – ganz ohne Fax.“
„Nesawissimaja Gaseta“ (Russland): „Viele Wähler sind noch unentschieden, welche Partei sie wählen sollen. Umfragen erwecken allerdings den Eindruck von Genauigkeit, die es in Wirklichkeit nicht gibt. (...) Ein Problem ist, dass Umfragen in der Regel übers Festnetztelefon gemacht werden. Junge Menschen nutzen es jedoch nicht mehr und halten es für ein altertümliches Kommunikationsmittel. So fällt ein erheblicher Teil der Wähler aus dem Blickfeld der Forscher. Ein Vorteil des Festnetztelefons besteht aber für Meinungsforscher darin, dass es im Gegensatz zum Handy an einen bestimmten Wohnort gebunden ist. Und so entsteht ein Stimmungsbild in einer bestimmten Stadt oder einem Bundesland. (...) Am 26. September kann es zu Überraschungen kommen.“ (lem/dpa)
Internationale Presse zu Merkel und der Wahl: „Viele werden ihren sturen, rationalen Pragmatismus vermissen“ - Tagesspiegel
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