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Sunday, September 5, 2021

Afghanistan: „Ich habe viele Leute vor meinen Augen sterben sehen“ - die Geschichte eines Geflüchteten - fr.de

  • Stefan Simon

    VonStefan Simon

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Ali Hassani flüchtete 2015 aus Afghanistan nach Deutschland. Der 22-Jährige will in den Profiboxsport aufsteigen - doch der Weg dorthin ist nicht einfach.

Darmstadt - Als Ali Hassani realisiert, dass sein Leben nun vorbei sein könnte, rollen Tränen. Er sitzt mit seinem älteren Bruder Abdulrahman in einem Boot, mitten auf der Ägäis zwischen der Türkei und Griechenland zusammen mit 62 weiteren Flüchtlingen. Der Motor springt nicht mehr an. Viele weinen, sie schütteln sich, Wasser dringt in das Boot. Hassani weint auch. Er sagt zu seinem Bruder: „Wir sterben jetzt und haben uns nicht einmal von unseren Eltern verabschiedet.“ Doch dann schnurrt der Motor wieder. Das Boot fährt weiter zum rettenden Ufer an die Küste Griechenlands.

Es ist das Jahr 2015, das Jahr der großen Flüchtlingswelle. Hassani ist damals erst 16 Jahre alt. Heute, sechs Jahre später, schildert er diesen Augenblick auf dem Boot, als hätte er noch tags zuvor darin gesessen. Der 22-Jährige steht im Hof vor dem Boxverein der TG 1875 Darmstadt. Er hat kurze schwarze Haare und trägt einen grauen Kapuzenpulli. Sein Rucksack hängt lässig über der rechten Schulter. Hassani lächelt und grüßt mit Handschlag und Umarmung.

Ali Hassani will Box-Weltmeister werden

Der Boxverein, sein Trainer, seine Freunde - sie sind seine zweite Familie, wie er sagt. Der junge Afghane boxt seit sechs Jahren bei der TG 1875 Darmstadt. Er ist dreimaliger Amateur-Hessenmeister im Leichtgewicht, zweimal wurde er Dritter bei der deutschen Meisterschaft, einmal Dritter bei der deutschen Meisterschaft der U 21 und er boxte in der Bundesliga, die neben der deutschen Boxmeisterschaft, der höchste nationale Wettbewerb im Boxen ist. Dass er bisher nicht den ersten Platz errang, stört ihn nicht. „Wenn ich Deutscher Meister werde, dann zählt der Titel quasi für mich nicht, weil ich keinen deutschen Pass habe.“

Die deutsche Meisterschaft qualifiziert für eine Teilnahme bei der Europameisterschaft. Als Afghane kann er daran jedoch nicht teilnehmen. Er hat ja nicht mal einen afghanischen Pass, nur einen Aufenthaltstitel. „Das ist traurig“, sagt er.

Aber er lässt sich davon auch nicht unterkriegen. Hassani hat zwei große Ziele vor Augen. Und dafür wird er hart arbeiten. „Ich will Profi und irgendwann Weltmeister werden. Ich weiß, dass es nicht einfach ist, aber es ist auch nicht unmöglich.“

Sein Bruder hat Ali Hassani in Afghanistan das Boxen beigebracht

Viele Kinder und Jugendliche träumen davon, Profi und Weltmeister in ihrer Sportart zu werden. Für die allermeisten bleibt es bei einem Traum. Doch Hassani ist kein Träumer. Er will das. Dieser Wille ist ihm anzumerken. Wenn Hassani über das Boxen redet, dann leuchten seine Augen. Er lächelt nach jedem ausgesprochenen Satz. Er lebt diesen Sport.

Er erzählt von seinem älteren Bruder Abdulrahman, der ihm in Afghanistan das Boxen beibrachte. „Er ist mein großes Vorbild“, sagt er. Dann lacht er kurz, hält inne und sagt: „Na ja, ich habe zwei Vorbilder, meinen Bruder und Gennadi Golowkin.“ Golowkin ist Weltmeister im Mittelgewicht.

Seine Mutter wollte nie, dass ihr zweitältester Sohn Boxer wird. „Sie machte sich immer Sorgen um mich“, so Hassani. Trotzdem trainiert er heimlich mit seinem Bruder und nimmt auch an Wettkämpfen teil. Als er mit zwei Medaillen nach Hause kommt, glaubt seine Mutter ihm zunächst nicht. „Als ich ihr die Medaillen zeigte, war sie so stolz auf mich“, sagt Hassani und lächelt. Sie sagte ihm, dass sie ihn irgendwann im Fernsehen sehen möchte. „Das habe ich sogar geschafft. Ich war im ZDF. Das Video habe ich noch immer auf meinem Handy. Ich habe meiner Mama das Video gezeigt. Sie war so glücklich.“

Wenn er von seiner Mutter redet, setzt bei Hassani ein Dauerlächeln ins Gesicht ein. „Ich meine, welches Kind möchte seine Mutter nicht glücklich machen?“

Afghanistan ist gefährlich. Ich habe viele Leute vor meinen Augen sterben sehen.

Ali Hassani

Der Weg aus Afghanistan nach Deutschland war hart für Ali Hassani

Der Weg, bis ins Fernsehen und nach Deutschland, war hart für ihn. Mit seinem Bruder verlässt er Afghanistan, weil sie nicht mehr in Angst leben wollten. „Afghanistan ist gefährlich. Ich habe viele Leute vor meinen Augen sterben sehen. In Deutschland ist alles anders. Ich kann abends rausgehen und komme wieder gesund nach Hause. Hier wirst du als Mensch wertgeschätzt“, erzählt Hassani.

50 Tage sind die Brüder unterwegs. Von Afghanistan geht es über Pakistan in den Iran. Sie laufen drei Tage über die Berge in die Türkei. Sie haben kaum etwas zu essen, kaum etwas zu trinken. Bevor sie schließlich an der Küste der Türkei in das überfüllte Boot einsteigen, weigern sie sich zunächst. „Wir wussten, dass schon viele Menschen auf dem Meer ertrunken sind. Doch der Schlepper hatte eine Waffe. Er zielte auf uns und sagte, wenn wir nicht einsteigen, erschießt er uns“, erzählt Hassani.

Von Griechenland aus nehmen sie den langen Weg über die Balkanroute nach Österreich und schließlich nach Deutschland. Schnell lernt er in einem Deutschkurs und durch seine Freunde im Boxverein die deutsche Sprache, macht seinen Hauptschulabschluss und befindet sich derzeit im zweiten Ausbildungsjahr zum Anlagemechaniker.

Seine Trauer, seine Wut, seine Hilflosigkeit verarbeitet Hassani im Boxen

Hassani kann sich ein Leben ohne Boxen nicht vorstellen. Seine Trauer, seine Wut, seine Hilflosigkeit verarbeitet er in dem Sport. „Im Training kann ich die ganze Last von meinen Schultern ablegen. Ich trainiere hart und habe nur ein Ziel: Ich will Weltmeister werden, egal wie.“ Das Zeug zum Profiboxer habe er, sagt Hassani selbstbewusst. „Ich bin gut. Ich habe 65 Kämpfe bestritten. Ich habe genug Erfahrung.“ Um Profi zu werden benötigt Hassani jedoch Sponsoren, doch die weigern sich bisher, den jungen Afghanen zu unterstützen. „Ohne Sponsoren kannst du kein Profi werden.“ Die vielen Absagen, sie frustrieren ihn. Er denkt sogar ans Aufhören. „Ich gebe aber nicht auf, weil ich mein Ziel erreichen will.“

Jeden Morgen steht er um 6 Uhr, fährt in den Darmstädter Vorort Roßdorf zur Arbeit. Danach geht’s in den Boxverein. Er trainiert sechsmal die Woche. „Wir gehören hier im Boxverein alle zusammen. Ich könnte jede Nacht hier schlafen und tagsüber trainieren.“

Ali Hassani sieht nach sechs Jahren seine Eltern wieder

Auch wenn seine Jungs im Verein wie seine Familie sind, er braucht seine Eltern. Seine Siege im Ring, seine drei Titel als Hessenmeister – für seinen Weg zum Profiboxer sind sie zwar wichtig, für ihn selbst ist die Freude nach einem Sieg im Boxring nur von sehr kurzer Dauer. „Wenn ich auf einem Turnier sehe wie die anderen Jungs nach einem Sieg zu ihren Eltern gehen und sich mit ihnen freuen, ist das immer sehr schwer für mich zu sehen. Meine Eltern sind nicht hier. Ich möchte sie doch auch stolz machen“, sagt er. Sein Lächeln verschwindet. „Jeder Sieg fühlte sich wie eine Niederlage an.“

Doch nach sechs langen Jahren in Deutschland sieht Hassani im August seine Eltern wieder. Die Taliban sind da schon längst auf dem Vormarsch und stehen vor den Toren Kabuls. „Es war so schön, sie nach sechs Jahren wieder in den Arm zu nehmen“, sagt er. Sein breites Lächeln kehrt zurück.

Hassani verlässt wieder sein Heimatland und seine Eltern. Doch dieses Mal konnte er sich von seinen Eltern verabschieden. (Stefan Simon)

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