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Saturday, August 28, 2021

Triell der Kanzlerkandidaten: Es gäbe noch viele offene Fragen - ZEIT ONLINE

Es gäbe noch viele offene Fragen – Seite 1

Pinar Atalay und Peter Kloeppel haben am Sonntagabend ab 20.15 Uhr bei RTL eine vergleichsweise leichte Aufgabe. Sie müssen im offiziell ersten von drei Triellen, die die Kanzlerkandidatin der Grünen und die Kanzlerkandidaten von Union und SPD im deutschen Fernsehen gemeinsam bis zur Bundestagswahl bestreiten werden, bloß gute Fragen stellen. Bessere als die zum Beispiel, mit denen Annalena Baerbock, Armin Laschet, Olaf Scholz und andere Spitzenpolitiker zuletzt je einzeln traktiert wurden in unzähligen Sommerinterviews und anderen Gesprächsformaten.

Das Fernsehen ist zumindest theoretisch ein ideales Medium zur Klärung politischer Sachverhalte, und das Frage-Antwort-Spiel ist ebenso theoretisch die ideale Form dafür. Live und in Farbe erörtern Politikerinnen und Politiker die Lage des Landes und der Welt; sie geben – hypothetisch, sie müssen ja erst gewählt werden und danach eine Koalition bilden – eine Vorausschau auf ihr mutmaßliches künftiges Regierungshandeln. Mit dem RTL-Triell beginnt (auch wieder theoretisch) die letzte Phase des Fernsehwahlkampfs: Laschet, Scholz und Baerbock können sich und ihrer gemeinsamen öffentlichen Befragung nicht mehr aus dem Weg gehen.

Tatsächlich sind sich die drei bereits einmal Ende Juni bei einer Runde der Münchner Sicherheitskonferenz im ARD-Hauptstadtstudio in Berlin begegnet, moderiert wurde das vergleichsweise ausgeruhte Gespräch von der Leiterin des Studios, der Sommerinterview-Veteranin Tina Hassel, und dem Chef der Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger. Dieses Quasi-Triell wurde gestreamt, es lässt sich bei YouTube nachschauen. Wie sehr es zunächst jedoch unter dem öffentlichen Radar blieb, zeigte sich daran, dass erst knapp sechs Wochen später eine Aussage Laschets dort plötzlich als weiterer Lapsus in dessen da beachtlich lang werdender Fauxpas-Kette diskutiert wurde: Laschet hatte auf die sehr dankbare erste Frage Hassels, wohin die erste Auslandsreise der Kandidaten im Fall eines Wahlsieges als Kanzler oder Kanzlerin führen würde, keine klare Antwort gegeben. Stattdessen hatte er geradezu in der Tradition von Donald Trump eine Verrate-ich-dann-lassen-Sie-sich-überraschen-Nummer abgezogen.

Nichts, nada, niente, nothing

Baerbock (Antwort: Brüssel) und Scholz (Antwort: Paris) hatten bei der eigentlich rein symbolischen Frage einen kleinen Akzent gesetzt: Scholz als außenpolitischer Traditionalist, der die deutsch-französische Freundschaft betonte, während Baerbock die Bedeutung der EU und also der Bündnispolitik für Deutschland besonders hervorhob. Nur bei dem vor allem selbst ernannten Außenpolitikexperten Laschet: nichts, nada, niente, nothing.

Tatsächlich sollte dies die einzige Gesprächsrunde in diesem Wahlkampf bisher bleiben, in der die Spitzenkandidaten vor Kameras überhaupt systematisch zu ihren außen- und sicherheitspolitischen Vorstellungen befragt wurden. Nicht einmal der Fall Kabuls Mitte August führte dazu, dass der Platz Deutschlands in der Welt oder die Aufgaben der Bundeswehr mit den Kanzlerkandidaten ernsthaft diskutiert wurden; aus der Afghanistan-Frage wurde unmittelbar eine innenpolitische Migrationsfrage. Man konnte beim Fernsehschauen den Eindruck bekommen, dieses Land sei eine Insel, allein mit seinen Corona-Sorgen und innerparteilichen Fragen insbesondere bei Union und Grünen. Ansonsten gab es außer Currywurst (vulgo: "Kraftriegel") und Eis wenig mit Inhalt zu besprechen, obwohl im Fernsehen wahnsinnig viel über Politik gesprochen wurde.

Es gab eben sehr viele Politikerinneninterviews. Traditionell befragen ARD und ZDF im sonst nachrichtenarmen Sommer jeweils alle Spitzen der im Bundestag vertretenen Parteien, und das sind über die Jahre mehr geworden; und nicht bei allen Parteien sind die Vorsitzenden heute zugleich auch Kanzlerkandidaten. Außerdem haben in diesem Wahljahr das Privatfernsehen und andere gelegentlich videostreamende Medien Interesse an Politik entdeckt, bei denen man derlei wenig unterhaltsame Unterhaltungen bislang nicht vermutet hätte, ProSieben, RTL, Sat1 und der neue Nationalflaggenkuschelsender Bild-TV. Auch die Frauenzeitschrift Brigitte hat in ihrem Streamingangebot Brigitte Live die Kandidaten befragt, hat das aber in der Vergangenheit schon sehr anheimelnd getan. Diesmal verrutschte nur eine Frage an Olaf Scholz zur Berufstätigkeit seiner Ehefrau ganz enorm. Im Nachhinein wird man womöglich sagen, dieser Moment sei der der Menschwerdung des Kandidaten Scholz gewesen. (Auch DIE ZEIT hat etwa Scholz im Video befragt.)

Hat man diese Sendungen (fast) alle geschaut, stellt sich womöglich automatisch Überdruss ein. Aber weniger wegen der schieren Masse an Interviews, sondern wegen deren mitunter spektakulären Scheiterns. Das erwartet man bei den Privatsendern vielleicht, nicht aber im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Dort hat in diesem Wahlkampf kein einziges tiefergehendes Gespräch über die Zukunft des Landes stattgefunden. Das kann eigentlich nicht daran liegen, dass die Befragten dazu nicht fähig wären. Vielmehr gilt: Man kann deren Horizont jedenfalls aus ihren bisherigen Fernsehinterviews gar nicht beurteilen, weil die Fragesteller die Gespräche immer wieder ins Banale, Parteitaktische, manchmal auch Abstruse lenkten. Es zeigt die strukturellen Probleme des deutschen Fernsehens dabei, Politik überhaupt darzustellen.

"Ja oder nein?"

Am 8. August etwa stellte die Journalistin Shakuntala Banerjee in einem der ZDF-Sommerinterviews Robert Habeck eine Frage, die möglicherweise das Grundverständnis des Politikbefragungswesens im deutschen Fernsehen demonstrierte. Der Co-Vorsitzende der Grünen und neben Markus Söder prominenteste Nichtkanzlerkandidat hatte zuvor in einer leicht seminarhaft formulierten Aussage zusammengefasst, worin aus seiner Sicht eine Richtungsentscheidung bei der anstehenden Bundestagswahl offenbar besteht und vielleicht überhaupt die Aufgabe von Politik: "Es geht darum, dass die Gesellschaft entlang der Analyse der Wirklichkeit handlungsfähig wird. Und das sind wir nicht."

Daraufhin Banerjee: "Wenn Sie das so beschreiben, die Dringlichkeit der Lage, Sie haben das jetzt schon ein paar Mal betont, das sagen Sie ja auch immer wieder im grünen Wahlkampf – Ihnen geht’s ja quasi um alles, bei Ihnen geht es buchstäblich ums Überleben der Menschheit. Wenn es wirklich so ernst ist, müssen Sie dann nicht sagen: Dann ist jedes Mittel recht, um ins Kanzleramt zu kommen, auch der Austausch der Kanzlerkandidatin Baerbock gegen einen Kanzlerkandidaten Habeck?"

Das muss man erst einmal schaffen: vom Weltuntergang auf die Spekulation zu kommen, die Grünen könnten kurz vor der Wahl eine unglücklich wirkende Spitzenkandidatin durch einen latent visionär dreinschauenden Spitzenkandidaten ersetzen. Das eine (Klimakatastrophe) hat mit dem anderen (Parteitaktik) nur dann etwas zu tun, sollte sich Habeck für den Weltretter halten, was einer bedenklich messianischen Ego-Aufblähung nahekäme. Außerdem müsste Habeck davon ausgehen, das Kanzleramt in Berlin sei der wichtigste Ort, von dem aus das Projekt Erdrettung organisiert werde. Wie also soll man auf eine solche Frage antworten?

"Geschlossene Grenze, ja oder nein?"

Man sah dem Mann eine leichte Verzweiflung an, die von einer späteren Frage Banerjees weiter gesteigert zu werden schien, als die im Zusammenhang mit dem schwelenden Konflikt zwischen Litauen und Belarus meinte: "Geschlossene Grenze, ja oder nein?" Nun, der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko hat die Grenze zum Nachbarland geschlossen, was sollte ein deutscher Grünen-Politiker da gerade zu entscheiden haben? Außer die Frage sollte insinuieren, die Antwort ließe einen grundsätzlichen Rückschluss darauf zu, wie die Grünen in einer äußerst hypothetischen Vergleichssituation mit deutschen Grenzen umgingen, wären sie an einer Bundesregierung beteiligt. Genauso gut hätte man fragen können: Schlechtes Wetter, ja oder nein?

Davon gab es in diesem Sommer viel, manchmal katastrophal schlechtes, und so ähnlich war es mit den "Ja-oder-nein?"-Fragen in den Sommerinterviews. Statt offene Fragen zu stellen, wie man das im Journalismus üblicherweise tut, gehören im deutschen Fernsehen Entweder-oder-Fragen immer noch zum Standardrepertoire von Interviewerinnen, und das allein ist schon bezeichnend. Zunächst zeigt sich da eine fast naive Reduktion – man nennt es unter Journalisten "Zuspitzung" – von politischem Handeln in eine Abfolge vermeintlicher Ja-oder-nein-Entscheidungen. Wäre Politik so einfach, könnte man sie auch von Kippschaltern erledigen lassen.

Noch bedeutsamer ist: Ja-oder-nein-Fragen wurden in den Fernsehinterviews fast immer rückgekoppelt an vermeintliche, oft innerparteiliche Konflikte und Personalfragen. Wurde etwa der Unionskanzlerkandidat Armin Laschet in den vergangenen Wochen und Monaten "Steuersenkungen, ja oder nein?" gefragt, meinte das eigentlich: Setzen Sie sich gegen Ihre Nemesis Söder durch, und wenn nicht, haben Sie dann verloren? Die Aushandlung von Macht ist selbstverständlich verbunden mit den Personen, die sie ausüben (wollen), doch politisches Handeln erschöpft sich darin nie. Wer es anders darstellt, nämlich nahezu ausschließlich als Köpfe-Kampf, ist eigentlich in der Sportberichterstattung tätig. Diese eben personalisierende Zuspitzung von Politik auf Ranküne und Taktikbesprechungen verkürzt sie nicht nur, sie stellt sie schlicht falsch dar.

Als Zuschauer langweilte man sich dabei nicht nur, man war zusehends empört: Theo Koll etwa nervte in den ZDF-Sommerinterviews eben nicht nur Armin Laschet (unter dem Dach des Museums K21 in Düsseldorf) und danach Markus Söder (im Stadion dessen Lieblingsvereins 1. FC Nürnberg) mit endlosen Nachfragen zu deren Verhältnis, sondern auch den Zuseher. Koll verschleuderte seine Interviewzeit fast ausschließlich für Geplänkel und vergaß zum Beispiel, Laschet endlich einmal danach zu fragen, was der eigentlich genau mit dem "Modernisierungsjahrzehnt" meint, vor dem er Deutschland sieht.

"Wie würden Sie das Ihren Kindern erklären?"

In der ARD durfte Laschet bei Tina Hassel im Einzelinterview (nach dem gemeinsamen Sicherheitskonferenz-Talk Wochen zuvor) über Windkraft, Landwirtschaft und klimaschützende Maßnahmen an Gebäuden reden: wichtig, aber nicht die große weite Welt. Matthias Deiß befragte den FDP-Vorsitzenden Christian Lindner im ARD-Sommerinterview zu Finanz-, Steuer- und Rentenpolitik, was eine gewisse Systematik der besprochenen Politikfelder ergab und auch insofern sinnvoll war, weil Lindner sich in dem Gespräch um den Posten des Bundesfinanzministers bewarb.

So blieb immerhin etwas Interessanteres von diesem Interview in Erinnerung als bei dem von Hassel mit Baerbock vor einigen Tagen, bei dem nur die letzte Frage nicht so schnell vergessen werden wird, Hassel entschuldigte sich dann auch später auf Twitter für diese: "Die kommende Regierung, das ist die Schlussfrage, könnte die letzte sein, in der die Klimakatastrophe überhaupt noch abzumildern ist. Wie würden Sie das Ihren Kindern erklären, wenn durch die vermeidbaren Fehler ihrer Mutter vielleicht die Grünen die Chance verspielt hätten, diese entscheidenden Weichen in der Regierung mit zu stellen?" Die Kinder von Kandidatinnen gehören sicher nicht in Sommerinterviews, aber ärger noch als der sexistische Unterton der Frage ist doch die erstaunliche moralische Entrüstungsbereitschaft, die in ihr anklingt.

Die in dieser Frage besonders drastisch formulierte Personalisierung respektive Rückbindung von politischen Erwartungen an eine Spitzenkandidatin offenbart nun auch einen eklatanten Widerspruch in der Fernsehberichterstattung über sie. Ein üblicher Vorwurf an deutsche Politiker etwa im Gegensatz zu US-amerikanischen ist ja, dass die deutschen selten eine überwölbende "Erzählung" besitzen, also ihre politischen Wertvorstellungen und angekündigten Handlungen nicht aus ihrer eigenen Vita herleiten können (oder wollen). Und wenn sie es versuchen, endet es dann mitunter wie bei Armin Laschets aktuellem CDU-Werbespot. Darin erwähnt der Unionskandidat explizit seinen Vater, der Steiger war, dazu sieht man Bilder von Laschet in einer Zeche, er trägt wie einige Nebenstehende Bergmannskluft. Doch Laschet hat als Einziger ein kohleverschmiertes Gesicht, das ist also augenscheinlich eine besondere Art von Karnevalsbemalung.

"Als Mutter"

Interviewt man Politikerinnen so kleinteilig, erratisch und kurz in 20, 25 Minuten, wie das im deutschen Fernsehen zuletzt geschah, können sie ja gar keine biografische Erzählung entwickeln – abgesehen davon, dass das Konzept einer intrinsischen Motivation von Politikern qua Identitätsmerkmalen auch nicht unproblematisch ist. Sollte Annalena Baerbock ihre politischen Entscheidungen vor allem "als Mutter" treffen, und was genau würde das bedeuten? Eine Fragehaltung, die davon selbstverständlich ausgeht, bedürfte zumindest der erkennbaren Reflexion in einem Interview.

So verquer die Personalisierung, so erschütternd war die Abwesenheit wichtiger Politikfelder, auch neben Außen-, Sicherheits- und Bündnispolitik. Finanz- und Wirtschaftspolitik wurde fast ausschließlich im Bezug auf "Steuern runter, ja oder nein" oder die Corona-Hilfen besprochen. Arbeit, Bildung, Verkehr, Inneres, Justiz scheinen überhaupt keine Zukunftsthemen zu sein. Über die akuteste Tagespolitik (vulgo: die neuesten Ränke) hinaus wurde wenig besprochen.

So saß man als Wähler oder Wählerin vorm Fernseher und wunderte sich: Schon toll, wie wenig Erkenntnisgewinn trotz erheblichen Zeitaufwands bei diesen Interviews herauskam. Und man wunderte sich noch mehr, als ausgerechnet in dem üblicherweise untauglichsten Gesprächsformat im Fernsehen, einer Talkshow, in diesen Tagen einmal inhaltlich interessant gestritten wurde, über Fiskalpolitik (!) zwischen Robert Habeck (!!) und Friedrich Merz (!!!) am Donnerstag spätabends bei Maybrit Illner. Kurz war man hellwach, es geht ja doch, es wurden erkennbar unterschiedliche Konzepte zu Investitionen und staatlicher Schuldenaufnahme diskutiert, überhaupt zur Funktion des Staates im 21. Jahrhundert. Auch ein zugeschalteter Wirtschaftsweiser schien nicht ganz unbeeindruckt.

Dann aber kam die ansonsten sehr gute Gastgeberin von sich aus, ohne jede Not, auf den "Kassensturz" zu sprechen, den Friedrich Merz zuletzt wiederholt nach der Bundestagswahl angemahnt hat. Einen "Kassensturz" zu fordern, das ist eigentlich eine unter Oppositionspolitikern beliebte Methode, ihre Wahlversprechen unter einen Finanzierungsvorbehalt zu stellen. Damit erweckt man vor der Wahl den Eindruck, die aktuelle Regierung verheimliche den wahren Zustand des Bundeshaushalts (als sei die Finanzplanung nicht öffentlich). Deshalb wird die Wahlkampfparole "Kassensturz" üblicherweise ja auch nicht von Politikern aus dem aktuellen Regierungslager wie dem CDU-Mitglied Friedrich Merz benutzt. Außer er will Zweifel an der Seriosität des aktuellen Finanzministers und zunehmend populärer werdenden SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz sähen oder gar an der noch regierenden Kanzlerin der CDU.

Statt Merz auf diesen doch erstaunlichen Widerspruch hinzuweisen, ließ Maybrit Illner Merz weiter seine bemerkenswert schematische Rolle als Steuersenkungsankündiger (nach "Kassensturz") und Austeritätsfreak spielen. Und während man noch kurz an einen erzürnten Satz aus Robert Habecks ZDF-Sommerinterview dachte – "Ahnungslosigkeit und Geiz regieren die Welt, wer will das denn?", hatte er zur deutschen Geflüchtetenpolitik gegenüber Afghanistan gesagt –, wurde es einem bald doch etwas dämmrig im Kopfe, es war ja auch schon spät. Im Wegnicken konnte man noch denken, dass es doch schön wäre, es ginge im Triell bei RTL dann nicht nur wie üblich bunter zu als bei ARD und ZDF, sondern auch weniger taktisch. Und das meint die Fragesteller ebenso wie die Antwortgeber. Man kann ja träumen, nicht nur im Schlaf. 

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