Die Tarifverhandlungen für drei Millionen Beschäftigte im Einzelhandel sind schwieriger als sonst. Arbeitgeber preschen vor und zahlen freiwillig zwei Prozent.
„Unglaublich“, so freute sich Conny Weissbach am Freitag, sei die Streikbereitschaft. Die Berliner Verdi-Funktionärin hatte Beschäftigte aus dem Handel zu einem ganztägigen Streik aufgerufen. Gut 500 kamen auf den Breitscheidplatz, um an prominentem Ort für mehr Geld zu demonstrieren: 4,5 Prozent plus 45 Euro pro Monat sowie einen Mindeststundenlohn von 12,50 Euro fordert Verdi und argumentiert mit den Pandemie-Profiten, die der Lebensmittel- und der Online-Handel eingefahren hätten.
Arbeitgeber bieten 5,4 Prozent für drei Jahre
Die Arbeitgeber führen auch die Pandemie an und sprechen von einer „zweigespaltenen Branche“. Im Nonfood-Bereich und insbesondere im stationären Textilhandel kämpften viele Betriebe noch immer um ihre Existenz. Diese Geschäfte dürften in diesem Jahr kaum oder am besten gar nicht mit zusätzlichen Personalkosten belastet werden. Das Angebot der Arbeitgeber: zwei Prozent mehr Geld in diesem Jahr, 1,4 Prozent im nächsten und nochmals zwei Prozent 2023. Dazu eine Coronaprämie von 300 Euro für Beschäftigte in Vollzeit. Die Krisenfirmen sollen diese 300 Euro nicht zahlen müssen und die Tariferhöhung später zahlen dürfen als etwa die Supermärkte. „Zehntausende Händler sind nicht gut durch den Lockdown gekommen, und kein Mensch weiß, was im Herbst passiert und wie das Weihnachtsgeschäft wird“, begründet Stefan Genth, Hauptgeschäftsführer des Einzelhandelsverbandes HDE den Wunsch nach einer temporären Verschiebung der Tariferhöhung. Doch die kommt für Verdi nicht infrage.
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"Konzerne verdienen sich eine goldene Nase"
„Rewe, Edeka, Otto, Ikea und alle die anderen, die massive Umsätze und Gewinne einfahren, schicken jetzt ein paar Textilfirmen vor, um sich weiter auf Kosten der Beschäftigten zu bereichern“, sagte Orhan Akman dem Tagesspiegel. Der Großteil der Konzerne habe sich während der Krise „eine goldene Nase verdient“, sagt Akman, der bei Verdi bundesweit für den Handel zuständig ist, und den Arbeitgebern „Respektlosigkeit gegenüber den Beschäftigten“ vorwirft.
800 000 Minijobber
3,1 Millionen Personen arbeiten hierzulande im Einzelhandel, davon sind gut 800 000 Minijobber und viele in Teilzeit. „Ein Vollzeitjob ist fast so selten wie ein Sechser im Lotto“, sagt Akman. „Die Löhne reichen häufig nicht zum Leben.“ Das hängt auch zusammen mit der Schwäche Verdis: Nur ein Bruchteil der Verkäuferinnen und Verkäufer gehört der Gewerkschaft an, und die Tarifbindung schrumpft von Jahr zu Jahr; 28 Prozent der Beschäftigten fallen Akman zufolge unter den Schutz eines Tarifvertrags, 2010 waren es noch 50 Prozent.
HDE-Chef Genth rechnet anders. Inklusive der Geschäfte, die sich bei der Festlegung der Arbeitsbedingungen am Branchentarifvertrag orientieren, kommt er auf einen deutlich höheren Anteil. „Für rund drei Viertel der Beschäftigten im Einzelhandel ist der Tarifvertrag relevant, wir haben daher eine Verantwortung, die über die tarifgebundenen Betriebe hinausgeht“, sagte Genth dem Tagesspiegel. Mit der verzögerten Zahlung der Tariferhöhungen werde man dieser Verantwortung gerecht und stärke dazu „den Flächentarifvertrag als historische Errungenschaft“, argumentiert der HDE.
In jedem Bundesland wird verhandelt
Die Struktur im Einzelhandel ist speziell, weil seit Jahrzehnten für jedes Bundesland verhandelt wird. Und da es in bislang mehr als zwei Dutzend Gesprächen keine Annäherung gab, sind die Arbeitgeber vorgeprescht und haben den Unternehmen empfohlen, ihren Belegschaften schon einmal zwei Prozent mehr zu zahlen. „Wir haben den Unternehmen keine Empfehlung gegeben, sondern eine Größenordnung zur Orientierung, weil wir uns der Verantwortung der Mitarbeiter sehr wohl bewusst sind“, begründet Genth den ungewöhnlichen Schritt, der die gewerkschaftliche Mobilisierungsarbeit in den kommenden Wochen nicht leichter macht. Akman jedenfalls schimpft über eine „Provokation“, die zur Verschärfung des Konflikts beitrage.
Zwei Prozent werden freiwillig draufgelegt
Große Händler, häufig Profiteure der Krise, halten sich an die Empfehlung, wie Conny Weissbach aus Berlin berichtet. Ikea und Edeka, Rewe, Netto und die Pharmagroßhändler hätten die Löhne um zwei Prozent angehoben, Kaufland sogar um drei Prozent. In der Region verdienen knapp 220 000 Menschen ihren Lebensunterhalt im Einzelhandel, 141 000 in Berlin und 78 000 in Brandenburg.
Ein dreistelliger Milliardenbetrag an Coronahilfen sei den Händlern zugeflossen, und trotz mehrmonatiger Schließung des stationären Handels sei der Umsatz im vergangenen Jahr um fünf Prozent gestiegen, werben die Gewerkschafter für ihre Forderung. „Der Einsatz der Beschäftigten vor allem auch während der Pandemie muss sich auszahlen.“ HDE-Chef Genth dagegen weist auf die Folgen des Lockdowns in den Innenstädten hin, wo „überall der Leerstand zu sehen ist“. Gerade in Großstädten, in denen Touristen bis zu ein Viertel zum Umsatz beitrügen, gehe es vielen Händlern schlecht. „So eine Situation hat es noch nie gegeben“, sagt Genth.
Verdi bietet Zeit statt Geld
Akman zufolge schließt Verdi mit einzelnen, schwer betroffenen Unternehmen wie Esprit oder Adler Sanierungstarifverträge ab. Eine Öffnung des Flächentarifs für Krisenfirmen lehnt Verdi aber ab. Stattdessen habe man kürzlich in den Verhandlungen in Nordrhein-Westfalen „Zeit statt Geld vorgeschlagen, um eine Kostenentlastung in den Unternehmen zu ermöglichen“. Die künftigen Entgelterhöhungen könnten auf Wunsch der Beschäftigten für einen bestimmten Zeitraum in zusätzliche Urlaubstage umgewandelt werden. Die Arbeitgeber lehnten ab. Im September geht es weiter mit den Verhandlungen in NRW, wo für das gesamte Bundesgebiet ein Pilotabschluss angestrebt wird.
Tarifauseinandersetzung im Einzelhandel: Viele wollen Streik - Tagesspiegel
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