Ludwigsburg. Die Pandemie, es ist zu einem Allgemeingut geworden, hat viele Schwächen in unserem Alltag offengelegt. Was in den Köpfen dagegen noch nicht so nachhaltig angekommen ist: Sie hat auch gezeigt, was schmerzlich fehlt, wenn dieser Alltag aus den Fugen gerät oder wie in den langen Monaten des Corona-Lockdowns quasi zum Stillstand kommt. Besonders zu spüren bekommen haben das auch die Sportvereine und ihre Mitglieder. Für einen Ludwigsburger Verein kam das auch noch in einem Jahr, in dem man eigentlich feiern wollte: den MTV Ludwigsburg, der in diesem Jahr stattliche 175 Jahre alt wird. Statt eines Fests der Bewegung, des Sports, des erfolgreichen Ehrenamts und Vereinsmanagements ist alles ganz anders gekommen. Jochen Eisele, der MTV-Vorsitzende, kann sich noch auf den Tag genau erinnern, dass esjener 16. März 2020 war, an dem der erste Lockdown begann. Wie es dann nach zweieinhalb Monaten wieder schrittweise Öffnungen gab, dann aber nach dem Sommer der fast vollkommene Stillstand ausbrach. Mit seinen gravierenden Folgen, für alle Mitglieder, besonders aber für die Kinder und Jugendlichen.
6800 Mitglieder zählt der MTV, fast 3000 von ihnen sind Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Eine gewaltige Zahl in einer Stadt wie Ludwigsburg. Und umso mehr sieht und befürchtet Eisele die negativen Folgen eines Lockdowns, den er in der Härte der vergangenen Monate für die Sportvereine nicht für nötig gehalten hätte. „Der Sport ist in den Überlegungen vor allem der Landespolitik hinten runtergefallen. Dabei ist das Thema Bewegung, sich fit halten, für die Gesundheit elementar wichtig. Das ist jetzt nach dieser langen Pandemiezeit deutlich spürbar. Und das wird noch einen Rattenschwanz geben. Das gilt vor allem auch für Kinder, die doch viel daheim hocken mussten, die beim Homeschooling nicht raus konnten. Wir sehen immer mehr übergewichtige Kinder.“
Diese Analyse deckt sich mit vielem, was auch aus Wissenschaft und Medizin zu hören ist. Während sich viele Kinder im ersten Corona-Lockdown – bei schönem Frühlingswetter – noch häufig draußen aufhielten, bewegten sie sich laut einer Studie des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) im zweiten Corona-Lockdown erheblich weniger als üblich. Eine andere Freizeitaktivität legte dafür immens zu: der Medienkonsum. Im Mittel saßen die an der Studie beteiligten 4- bis 17-Jährigen fast vier Stunden am Tag vor Bildschirmen. Andere Studien gehen sogar von noch mehr Medienkonsum aus.
Ein gutes Drittel der bei der Studie befragten Eltern berichtete außerdem, dass ihre Kinder durch den Bewegungsmangel an Gewicht zugenommen hätten. Die Forscher vom KIT bestätigen: Der Mangel an Bewegung beeinträchtigt nicht nur die Kondition und Koordination, sondern vor allem bei sportfernen Familien habe ein Viertel der Kinder zugenommen. Diabetes und andere chronische Krankheiten könnten die Folge sein.
Auch andere Fachleute warnen: Ein Minus an Bewegung in einer entscheidenden Entwicklungsphase habe Auswirkungen auf das gesamte Leben. Zum einen meiden Kinder, die etwa wegen mehr Gewicht und verschlechterter Motorik beim Spiel mit Gleichaltrigen häufiger verlieren, das Toben und Spielen oft ganz. Zum anderen sei es generell so, dass sich das Bewegungsverhalten in Kindheit und Jugend verfestige. Aus inaktiven Kindern werden mit großer Wahrscheinlichkeit inaktive Erwachsene.
MTV-Chef Eisele verweist auch auf die soziale Bedeutung des Vereinssports. „Neben der Gesundheit ist besonders wichtig der soziale Aspekt, also das sich mit anderen Kindern Treffen, die Bedeutung von Regeln, das Lernen von Toleranz und Rücksicht auf andere zu nehmen. In einem Sportverein wie bei uns kommt zudem jegliche Hautfarbe, jegliche Religion, jegliche soziale Schicht zusammen.“ In einer eher beliebigen Gesellschaft biete der Verein einen Ort, in dem Kinder noch Verbindlichkeit lernen, wo sie Verpflichtungen einhalten müssen. „Das ist doch wichtig auch für das ganze Leben in einer demokratischen Gesellschaft. Alle spielen zusammen, man gewinnt zusammen, man lernt aber auch, gemeinsam zu verlieren. Da hat der Verein eine unglaubliche Bedeutung für die Entwicklung der Kinder.“
Man dürfe den Blick dabei nicht nur auf Kinder lenken, auch für die Erwachsenen habe der Sportverein eine wichtige soziale Komponente, man gehe hinterher noch etwas trinken und schwätze miteinander. „Sportverein ist also nicht nur Bewegung, auch das gesellschaftliche Drumherum ist sehr wichtig.“
Eiseles große Sorge: „Wir werden auch da noch schwere Folgen zu spüren bekommen. Ein 80-Jähriger etwa war vor Corona regelmäßig im Fitnessstudio, machte Koronarsport oder war im Schwimmen. Jetzt nach dem langen Stillstand ist es gut möglich, dass manche gar nicht mehr neu anfangen. Es wäre besser gewesen, die Politik hätte gezielt versucht, etwas zu ermöglichen, anstelle nur zu verbieten. Das fällt uns noch auf die Füße, es besteht die Gefahr, dass manche gar nicht mehr zum Sport zurückkommen werden.“
Hat die Politik all das verstanden? Finanziell ja, meint Eisele, es gab Geld vom Württembergischen Sportbund, nicht aber, was die Lockerungen und Öffnungsschritte betrifft. Denn immer wieder hatte es Vorstöße aus dem Sport gegeben, den Kinder- und Jugendsport differenzierter von den allgemeinen Maßnahmen zum Infektionsschutz zu betrachten. Doch die Forderungen, zum Beispiel von der Deutschen Sportjugend, nach ein paar Freiheiten für den Kinder- und Jugendsport wurden nicht berücksichtigt. Kampfsportarten, wie zum Beispiel Judo, in denen die Sportler in direktem Körperkontakt sind, wurden gleich bewertet wie etwa Badminton, eine Sportart, in der die Spieler recht weit voneinander entfernt stehen. Auch Jochen Eisele zeigt sich ernüchtert, was die Politik angeht. „ Wir haben gemeinsam mit über 70 anderen Großvereinen einen Brief an die Landesregierung gerichtet und appelliert. Geschehen ist nichts.“
Warum, fragt sich Eisele, sei es schon länger klar gewesen, dass 14000 Menschen zur EM in ein Stadion dürfen, in Sportvereinen aber nichts gelockert wurde? „Ich folgere daraus, dass der Breitensport doch nicht die große Lobby hat. Man hätte frühere Szenarien für Lockerungen entwickeln müssen, man kann doch testen, man kann die Halle lüften, man kann die Geräte desinfizieren, aber da traut sich keiner ranzugehen.“
Und wie sieht es mit der Unterstützung durch die Stadt Ludwigsburg aus? Die Förderung des Sports sei im Grundsatz gut, findet Eisele, bedauert aber sehr, dass die Stadt den Vereinen die Förderung um zehn Prozent gekürzt hat. „Andere Städte haben ihren Vereinen in dieser Zeit zur Unterstützung fünf Euro pro Mitglied als Zuschuss gegeben.“ Er habe gegen die Kürzungen auch für andere Vereine gestimmt, sagt Eisele, der selbst einen Sitz im Gemeinderat hat. Eine Forderung ist für ihn klar: „Im nächsten Jahr muss die Kürzung wieder weg.“
Im Moment setzt der Verein alle Hebel in Bewegung, um die Angebote für Kinder wie Erwachsene wieder so weit möglich hochzufahren. Dazu gehört auch ein mehrwöchiges Angebot in den Sommerferien (siehe unten). Der Verein ergreift auch an anderer Stelle wieder die Initiative: Luftfilter werden angeschafft, für die Hallen wie auch für die Gastronomie.
Sportverein für viele Kinder unersetzlich - Ludwigsburger Kreiszeitung
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