Fast sechs Monate lang waren die Innenstädte in Deutschland wie ausgestorben. Auch das Einkaufen mit Test und Termin oder das Abholen vorbestellter Artikel konnte daran nicht viel ändern. Jetzt läuft der Handel flächendeckend wieder an, wenn auch mit Einschränkungen wie zum Beispiel Abstandsgeboten. Doch der Lockdown hat Spuren hinterlassen.
Die Freude der Kunden über kräftige Rabatte wird vielerorts überlagert vom traurigen Eindruck blinder Schaufenster und verlassener Läden. Viele Kaufleute haben aufgegeben. Wie geht es nun weiter? Dazu befragte WELT Stefan Genth, den Hauptgeschäftsführer des Handelsverbands Deutschland (HDE).
WELT: Am Samstag gab es lange Käuferschlangen vor vielen Läden. Beginnt jetzt die große Aufholjagd im Handel?
Stefan Genth: Nach einer derart langen Phase der Schließung wollen die Menschen zurück in die Städte und einkaufen, das ist klar. Trotzdem kann ich keine Entwarnung geben. In der ersten Juni-Woche lagen die Umsätze im Innenstadthandel immer noch um 16 Prozent unter dem Niveau der entsprechenden Vorjahreswoche. Das ist besser als die Minusraten von teilweise 60 oder 70 Prozent in den Vorwochen. Aber es reicht nicht aus, um Handel wirtschaftlich zu betreiben, also Miete, Personal und alle anderen Kosten zu bezahlen. Ein Minus von 16 Prozent wäre zu anderen Zeiten ein Desaster.
WELT: Das läuft wohl auf die Forderung nach weiteren Staatshilfen hinaus?
Genth: Es ist enorm wichtig, dass auf der Zielgeraden die richtige Nachsteuerung erfolgt. Sonst verliert der Handel die Fähigkeit, in die Zukunft zu investieren. Die vorgesehene Verlängerung der Überbrückungshilfe bis Jahresende begrüßen wir, aber diese greift nur, wenn der Umsatzrückgang in einem Monat mindestens 30 Prozent beträgt. Viele Händler fallen damit schon wieder aus der Regelung heraus – auch weil E-Commerce-Umsätze mitzählen, obwohl sie oft keinen Ertrag bringen. Zwingend erforderlich ist aus unserer Sicht auch eine Nachbesserung bei der Wirtschaftshilfe. Die Höchstgrenze bei den großen Handelsunternehmen von zehn Millionen Euro im Monat sorgt dafür, dass die Miet- und Pachtausgaben bei Weitem nicht gedeckt werden können, und das seit Dezember. Wir haben vorgeschlagen, die Grenze auf 50 bis 70 Millionen hochzusetzen.
WELT: Das wäre aber ein ordentlicher Schluck aus der Pulle. Wie kommen Sie auf diese Zahl?
Genth: Große Filialketten haben, durch diese Schließung bedingt, Verluste zwischen 50 und 200 Millionen Euro im Monat zu schultern. Dafür muss es wenigstens einen Schadensausgleich zu einem nennenswerten Teil geben. Nach EU-Recht sind Beihilfen in außergewöhnlichen Situationen zulässig. Die entsprechende Genehmigung der EU-Kommission liegt übrigens bereits seit fast zwei Wochen vor. Leider hat Bundesfinanzminister Scholz seinen grünen Haken bisher nicht an das Papier gemacht. Das ist für uns unverständlich.
WELT: Was erwarten Sie, wenn die Grenze nicht heraufgesetzt wird? Sind Insolvenzen auch bei Großunternehmen zu befürchten?
Genth: Das Handelsforschungsinstitut IFH geht davon aus, dass bis zu 120.000 Geschäfte aller Größenordnungen aufgegeben werden, viele davon in aller Stille. Nach einer HDE-Umfrage von Anfang Juni rechnen zum Beispiel 25 Prozent aller Modehändler in den Innenstädten, 29 Prozent der Inhaber von Schuhgeschäften und 43 Prozent der Sportartikelhändler damit, dass sie ihr Geschäft ohne weitere Hilfen im zweiten Halbjahr 2021 schließen müssen. Wenn jetzt nicht adäquat unterstützt wird, ist auch bei großen Filialunternehmen das Risiko von Insolvenzen groß. Bei vielen ist das Eigenkapital nach dem langen Lockdown aufgezehrt. Manche Unternehmen existieren schon jetzt nur noch, weil Gesellschafter Geld nachgeschossen haben.
WELT: Aber die Stimmung muss doch eigentlich steigen, wenn das Geschäft wieder anläuft?
Genth: Einzelhändler sind grundsätzlich Optimisten, anders kann man dieses Geschäft gar nicht betreiben. Wir hoffen natürlich, dass die Kunden mitziehen und regelmäßig wieder in die Städte kommen. Die Grundvoraussetzungen stimmen: Die Sparkonten sind voll, die sozialen Sicherungssysteme haben in der Krise gut funktioniert.
WELT: Wer braucht auf Dauer überhaupt noch den Innenstadthandel, wenn man alles online kaufen kann?
Genth: Der stationäre Einzelhandel hat Zukunft, auch in den Städten. Aber wenn er auf lange Sicht attraktiv bleiben soll, müssen die Unternehmen jetzt investieren. Die Konzepte liegen vor, sowohl für die Wiederbelebung der City als auch für die Digitalisierung des Handels und die Verbindung dieser beiden Elemente. Die große Herausforderung: Abgesehen von der Gastronomie, war kein anderer Wirtschaftszweig vom Lockdown so massiv betroffen wie der Innenstadthandel. Nach dieser Breitseite fehlt das Eigenkapital für die notwendigen Investitionen, beispielsweise in die Verknüpfung der Vertriebskanäle. Deshalb sind die Hilfen jetzt so wichtig.
WELT: Hohe Margen werden die meisten Firmen jedenfalls vorerst nicht erzielen. Die Kunden freuen sich über purzelnde Preise, bis die Ladenhüter aus der Lockdown-Phase verkauft sind.
Genth: Massive Preisreduzierungen wird es hoffentlich nur für eine kurze Phase geben, bis Angebotsüberhänge abgebaut sind und der Markt sich wieder eingespielt hat. Der Handel hat aber schon vorsichtiger eingekauft. Kaufimpulse können auf die Dauer nicht nur über den Preis gesetzt werden. Vielmehr machen Mode, Qualität, Anspruch und Vielfalt erst richtig Lust aufs Einkaufen.
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Einzelhandel: „120.000 Geschäfte werden aufgegeben, viele in aller Stille“ - WELT
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