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Saturday, June 26, 2021

Die Fortschritts-Falle: Weshalb viele von uns heute ständig erschöpft sind - FOCUS Online

Erschöpfung ist eine Volkskrankheit: Die Fortschritts-Falle: Weshalb viele von uns heute ständig erschöpft sind

Mit Erschöpfung kämpfen viele. Der simpelste Grund ist Schlafmangel. Aber viele Aspekte des schnellen, modernen Lebens spielen eine zentrale Rolle. Für Sportarzt Matthias Marquardt ist Erschöpfung bereits eine Volkskrankheit. Mit einfachen Tipps kann man ihr aber im besten Fall entgegenwirken.

FOCUS Online: Herr Marquardt, Sie schreiben in Ihrem Buch über Erschöpfung. Kann man das wirklich schon eine Volkskrankheit nennen?

Matthias Marquardt: Volkskrankheit ist eine Beschreibung für eine Erkrankung, die sehr viele Menschen betrifft oder die einen besonderen volkswirtschaftlichen Schaden hervorbringt. Und das trifft auf Erschöpfung sicherlich zu. Wobei der Begriff Erschöpfung nicht so ohne weiteres scharf zu definieren ist. Erschöpfung hat verschiedene Ursachen und Ausprägungen. Es kann durch Schilddrüsenunterfunktion Eisenmangel, Burnout Syndrom, Depressionen entstehen. Da vermischt sich sehr viel. Daher würde man Erschöpfung vielleicht in einem Lehrbuch nicht als Volkskrankheit bezeichnen. Aber in der Wahrnehmung der Menschen und von Ärzten in ihrer Praxis ist das bestimmt ein Volksthema.

Wie zeigt sich diese Erschöpfung denn?

Marquardt: Müdigkeit ist das Leitsymptom, aber auch Kraftlosigkeit. Meine Patienten sagen oft, sie sind erschöpft, obwohl sie viel schlafen und müssen dann schon vormittags einen Mittagsschlaf einlegen. Oder es fehlt ihnen die Kraft, nach Feierabend noch die Freizeit zu gestalten.

Welche Krankheiten können dahinterstecken?

Marquardt: Wenn Patienten mit Erschöpfung zu mir kommen, ist das immer ein sehr weites Feld. Das eine sind körperliche Erkrankungen wie Herzschwächen, Lungenerkrankungen, hormonelle Probleme oder solche mit der Schilddrüse. Dazu zählt sicherlich auch das Thema Mikronährstoffmangel – Eisenmangel oder andere Stoffe, die mit dem Energiehaushalt zu tun haben, wie Magnesium.

Über den Experten

Matthias Marquardt ist Internist, Chirotherapeut und Sportmediziner. Er verfasste den Bestseller „Die Laufbibel“ und ist ein gefragter Experte für Motivation, Gesundheit, Ernährung und Stress-Management.

 

Das andere Feld ist das psychische. Krankheiten wie Depressionen ziehen oft Erschöpfungssymptome mit sich. Und dann gibt es natürlich auch Überlasungsprobleme, wie ein Burnout. Und der dritte Punkt sind die Lifestyle Faktoren. Einige Patienten gucken mich ganz irritiert an, wenn man ihnen sagt, dass drei bis vier Stunden Schlaf nicht ausreichend sind. Hier merkt man, dass einige Menschen für das moderne Leben ans Limit gehen. Diese drei Dinge können sich natürlich vermengen.

Erschöpfung: Menschen muten sich zu viel zu

Dann kann unsere Erschöpfung auch daran liegen, dass wir uns in dieser schnelllebigen Welt zu viel zumuten.

Marquardt: Ja, in dieser schnelllebigen Gesellschaft, in der immer mehr verlangt wird, werden wir zum Beispiel von sozialen Medien gehetzt. Es entsteht immer mehr Druck auf jeden. Gesellschaftliche Faktoren spielen da eine große Rolle.

Man liest und hört aktuell häufig auch von der Pandemie-Müdigkeit.

Marquardt: Am Anfang der Pandemie haben einige Journalisten die steile These aufgestellt, Corona wäre eine super Chance, das Leben langsamer zu gestalten und endlich Entschleunigung zu erfahren. In meinen Augen war das ausgemachter Blödsinn. Spätestens in einem Jahr wird alles wieder laufen wie früher: Autobahnen werden verstopft sein, Kreuzfahrtschiffe reichlich gebucht. Schon jetzt deutet sich ja genau dies an. Vor allem aber die Idee, Menschen hätten weniger Stress im Lockdown, halte ich für falsch. Denn es ist natürlich etwas anderes, ob wir zum Beispiel freiwillig langsam mit dem Auto fahren oder unfreiwillig im Stau stehen. Corona war eine Zwangspause, in der man viele Dinge, die für unser Wohlbefinden elementar sind, nicht machen konnte. Das steigerte den Stress!

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"Erschöpft: Warum uns allen die Kraft ausgeht – und was wir dagegen tun können" von Matthias Marquardt

 

Zudem: Einige Menschen habe ihre wirtschaftliche Existenz verloren, Mütter und Väter mussten im Home Office zusätzlich Ihre Kinder beschulen. Und im Home Office wechselten Arbeitnehmer ohne Pause von einer Online-Konferenz in die Nächste. Wir haben uns in der Lockdown-Zeit viel zugemutet und haben viel geleistet, das spüren die Menschen jetzt.

Wer ernsthaft glaubt, die Coronazeit hätte uns Menschen gut getan und unser Leben entschleunigt, der hat sich wahrscheinlich in einer sehr privilegierten Situation befunden.

Was richtet Erschöpfung mit uns an, welche Folgen hat sie?

Marquardt: Man ist permanent müde und kraftlos. Man fühlt sich niedergeschlagen, finden keine rechte Motivation für die alltäglichen und auch die besonderen Dinge. Lethargie macht sich breit. Einige bekommen Probleme, die Energie für die berufliche Aktivität aufzubringen. Und obwohl man sich hingelegt hat und gut schläft, ist man am nächsten Tag wieder antriebslos.

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"Wären die Menschen Tiere, würde sofort der Tierschutzverein auflaufen"

Welche Tipps haben Sie für Menschen, die häufig erschöpft sind?

Marquardt: Zunächst ist wichtig: theoretisch kann es sich auch um ernsthafte Erkrankungen handeln. Menschen mit einer bis dato nicht erkannten Depression, die sich müde und zerschlagen fühlen, wird mit allgemeinen Tipps nicht geholfen sein. Wenn sie solche Probleme haben, sollten sie zuerst mit einem Arzt sprechen und sich untersuchen lassen. Wenn keine körperliche Erkrankung dahintersteckt, kein Nährstoffmangel oder ähnliches, sondern eher die Lebensführung, dann ist es einfach, Tipps zu geben. Ein ganz primitiver Ratschlag, der sehr vielen Menschen helfen würde: Schlafen Sie ein 2 Stunden mehr pro Nacht. Eine Stunde Sport am Tag hilft ungemein, egal ob Krafttraining, SUP-Fahren, Joggen – was auch immer man gerne macht. Lassen Sie den Fernseher abends einfach aus, lesen Sie ein paar Seiten in einem Buch. Und sobald Sie müde sind, gehen Sie ins Bett.

Diese Tipps sind tatsächlich sehr einfach.

Marquardt: Stimmt, der springende Punkt ist: Warum kriegen wir das nicht hin? Jeder mittelgescheite Mensch sollte doch auf die Idee kommen, dass zu wenig Schlaf in Erschöpfung resultiert. Der Mensch ist wahrscheinlich das einzige Wesen auf der Erde, das sein bestes Regenerations-Programm willkürlich permanent verkürzt. Warum handeln wir gegen unsere Natur? Wenn ich ein Tierhalter wäre und ich würde Menschen wie Tiere halten und diese dann den ganzen Tag in ein Büro setzen und nur sechs Stunden schlafen lassen, würde sofort der Tierschutzverien auflaufen. Das sind keine artgerechten Haltungsformen. Wir selbst tun es uns aber trotzdem an.

Dabei erleichtern wir und doch eigentlich durch den technischen Fortschritt immer weiter den Alltag, oder?

Marquardt: Als der technische Fortschritt losging hätten die Menschen eigentlich mehr Zeit für andere Dinge als arbeiten haben sollen, doch das Gegenteil war der Fall. Ein Beispiel: Wissenschaftler haben untersucht, wie sich das Leben der Menschen verändert hat, als die Waschmaschine in Deutschland Einzug hielt. Das Paradoxe ist aber, dass die Menschen mehr Zeit mit Wäsche waschen verbrachten, weil viel öfter Wäsche gewechselt wurde oder mehr Wäsche gekauft wurde. Am Ende hat der technologische Fortschritt für mehr Arbeit gesorgt. Genau so als Webstühle automatisiert wurden. Heute werden aber viel mehr Klamotten produziert, getragen und weggeworfen – wieder mehr Arbeit. Das können Sie auf jeden Lebensbereich übertragen. Schauen Sie sich die Digitalisierung in der Medizin an. Früher wurden Rezepte mühsam per Hand ausgestellt. Heute stellen wir auf Knopfdruck aufgrund des medizinischen Fortschritts mehr Rezepte aus denn je. So sind wir in einer Fortschritt-Falle.

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Jeder braucht ein wirkliches Hobby!

Können wir uns nicht bewusst dagegenstellen?

Marquardt: Wir sind in einer gesellschaftlichen Tretmühle von „Immer mehr und immer schneller“. Wir müssen unser Geld verdienen, ich als Arzt wie auch Sie als Journalist. Wir leben in gesellschaftlichen Abhängigkeiten, die bestimmte Dinge fordern. Da muss man sich eben bewusst gegen stellen, auch wenn man negativ im eigenen Umfeld auffällt. Das traut sich aber nicht jeder. Jeder muss für sich da den richtigen Weg finden. Ich brauche kein teures Fahrrad, kein teures Auto und keinen teuren Urlaub. Man kann mit der Familie genauso gut schöne Ecken in Deutschland erkunden und muss nicht den nächsten 10-Stunden-Flug antreten und völlig gestresst aus dem Flieger steigen. Verzichten ist aber eben nicht die leichteste Übung für den Menschen. Gleichwohl: Es würde ihnen Zeit und Kraft geben.

Haben Sie eine konkrete Sache, die Ihnen immer Kraft gibt?

Marquardt: Was mir wirklich hilft ist mein Sport. Ich bin aber auch Sportarzt und Vollblut-Sportler, insofern ist das nicht auf jedermann übertragbar. Es gibt auch Menschen, die einfach sagen: „Dieses Körperliche, das ist nicht so meins, ich habe andere Hobbys.“ Wenn jemand begeisterter Klavierspieler ist, dann wird er im Klavierspielen das finden, was ich im Sport finde. Da sind wir allerdings an einem ganz wichtigen Punkt: ein wirkliches Hobby.

Viele Menschen haben doch ein Hobby, oder nicht?

Marquardt: Ein Hobby ist etwas, das ich besonders gut kann – eine Sache, in der ich aufgehe und von der alle wissen, dass ich sie richtig gut kann. Wörtlich kommt „Hobby“ vom englischen Wort Hobbyhorse, was Steckenpferd heißt! Das macht das Leben besser. Für den einen ist es das Klavierspielen, für den anderen Wellenreiten, für den Dritten das Modellbauen. In einem Hobby stecken viele Jahre Blut, Schweiß und Tränen. Und immer wieder Glücksmomente.

Keine Hobbys sind hingegen ins Kino gehen oder shoppen gehen. Genau so der Freizeitpark, das sind alles Freizeitbeschäftigungen. Das ist alles ganz nett, hat aber nicht den gleichen Effekt auf die Psyche wie ein Hobby. Und eben diese Hobbys helfen Menschen am besten, sich zu entspannen, wohlzufühlen und glücklicher zu sein. Verwechseln Sie bitte nicht Freizeitbeschäftigungen mit Hobbys!

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