Meine Güte, liebe Menschen. Da draußen, außerhalb unseres Sichtfeldes, brennt die Welt. Die Wüsten breiten sich aus, Raketen fliegen herum, die Militäretats wachsen auf absurde Größen. USA: 778 Milliarden Dollar, Deutschland: 52,8 Milliarden. Die Rüstungsfirmen versenken ihre Gewinne in Stiftungen, die sich vermutlich für den Frieden auf der Welt einsetzen. Die USA streiten mit Russland um Pipelinetrassen und die Arktis. Und um Firmen, die noch mehr ruinieren und dann Stiftungen zum Steuersparen gründen.
Obendrauf gibt es eine Pandemie, in der eilig ein absurdes Gesetz nach dem anderen durchgewunken wird; der Ausnahmezustand, der Millionen arbeitslos machen wird und der einen ahnen lässt, was bei kommenden Antibiotikaresistenzen passieren wird.
Und was machen die Leute? Die vornehmlich männlichen kämpfen gegen die Verursachenden des globalen und ihres persönlichen Elends: gegen Frauen, Queere und BPOC – als hätten die letzten fünfzig Jahre nicht stattgefunden. All die Kämpfe, um Frauen und andere von der Norm abweichende Lebensformen ein wenig am Glück der Kleinbürger teilhaben zu lassen. Alles wird neu verhandelt. Infrage gestellt: die Genderstudies, die Frauenrechte, das Recht auf geschlechtliche Selbstbestimmung – als wären die Familien mit Goldkanten-Gardinen aus den Gräbern aufgestanden, als hätte Europa auf den Fortschritts-Stopp-Knopf gedrückt. Es gibt so viel Frauenhass, als gäbe es Geld dafür; dazu Angriffe auf Homosexuelle, Transmenschen. Flüchtlinge lässt man im Meer ersaufen, weil sie eine komplette Bedrohung unserer fantastischen Selbstausbeutung sind.
In vielen Ländern Europas sind Regierungen an der Macht, die machen, was konservative – oder nennen wir es endstufenkapitalistische, marktfreundliche, wirtschaftsnahe – Politik so macht: Sie sorgen dafür, dass Faschismus und soziale Ungleichheit wieder verhandelbar wird, Judenhass dito.
Sie hetzen, sie befeuern Konflikte, um ihren Arsch zu retten: ihren Posten in der Regierung und später in irgendeinem Aufsichtsrat.
Statt Gesetze gegen die Steuervermeidung durch Stiftungen, die sich Konzerne und Erben gönnen, zu erlassen, stellen sie ihre Kernwählerschaft zufrieden, die als Erklärung für ihr fortschreitendes Unwohlsein gern auf Minderheiten zeigt.
Das raunende Unwohlsein meist männlicher Menschen, die nicht an eine Klimaveränderung glauben wollen und nicht verstanden haben, dass Arbeit sie nie zu einem Reichtum bringen wird, wird flankiert von den Medien, die im Untergangsmodus drucken, was Kämpfe befeuert.
Zum Beispiel, als einfachstes und sichtbarstes Dauerkampfthema: die Sprache.
Immer, wenn ich dachte, jetzt haben wir alle Stimmen zu dem endlich stattfindenden breiteren Diskurs über eine Anpassung der Sprache an die Realität gehört – also jeden Kritiker, der erregt von einem Gläschen Spätburgunder zu viel in seiner Bibliothek rein weißer Autoren in die inneren Tasten gehauen hat –, biegt immer noch irgendein ehemaliger Popstar um die Ecke und redet von der Lautstärke der Minderheiten. Als ob die Meinung von Popsängern, die Lieder mit Fischen singen, oder die von Literaturkritikern und Dichtern jetzt die absolute Mehrheit der Gesellschaft abbilden würde.
Wenn ich Präsident Macron wäre, würde ich allen, die gerade so in Panik sind, übergriffig den Arm tätscheln und raunen: »Ganz ruhig! Ihr werdet benutzt von verzweifelten PolitikerInnen und Medienschaffenden, von Plattformen, die von künstlicher Intelligenz getrieben sind und die von eurer Erregung leben. Ihr werdet nicht sterben, weil ein paar Homosexuelle weniger zusammengeschlagen werden, ein paar Frauen mehr in MINT-Studienfächer wechseln oder sie in der Sprache berücksichtigt werden. Euch bleibt immer noch genug übrig: Eine untergehende Welt, die man jetzt mal retten könnte, statt sich mit dem Kampf gegeneinander von den wirklichen Verbrechen ablenken zu lassen. Man kann es versuchen, ganz behutsam. Und sich fragen: Was zur Hölle ändert es an meinem Leben, wenn ich Leute, die genauso abhängig von einem ungerechten Wirtschaftssystem sind wie ich, in meinem Elend gleichberechtigt sehe?«
Ein Kampf gegen Menschen, denen es noch schlechter geht als einem selbst, ist relativ sinnlos. Und macht schlechte Laune. Hassen wir lieber die Banken, die jetzt bargeldlos sind und neben der Kontoführungsgebühr noch Strafgelder von uns einziehen, egal ob wir ein Plus oder Minus haben. Fackeln wir ein paar Gaspipelines ab, oder Bagger, die nach Kohle graben. Genauso sinnlos, macht aber eine bessere Stimmung. Eine schöne Woche!
Gleichberechtigung: Ihr werdet nicht sterben, weil ein paar Homosexuelle weniger zusammengeschlagen werden - DER SPIEGEL
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