Die Grünen sind die Partei der Stunde. Die Klärung der Kanzlerkandidatur ist – gerade im Vergleich zur Union – relativ harmonisch von statten gegangen. Und allen aktuellen Umfragen zufolge wird es nach der Bundestagswahl im September keine praktikable Koalitionsoption geben, die ohne die Grünen auskommt – möglicherweise sogar mit ihnen an der Spitze.
Daher schaut man nicht nur in Deutschland, sondern auch in Brüssel und den anderen europäischen Hauptstädten mit Argusaugen auf das grüne Parteiprogramm, und insbesondere auf die Absichten zur Fiskalpolitik. Öffentliche Investitionen sind zentral für Klimapolitik, und die steht im Zentrum dessen, was die Grünen wollen und womit sie punkten können.
Das Programm der Grünen
Was sagen die Grünen zur Schuldenbremse und was zu den europäischen Fiskalregeln, die damit eng verknüpft sind? Die zentrale Stelle im Entwurf des Wahlprogramms, das im Juni verabschiedet werden soll, lautet:
„Wir wollen die Schuldenbremse im Grundgesetz zeitgemäß gestalten – um die so dringenden Investitionen zu ermöglichen. Bei konsumtiven Ausgaben bleibt es bei den derzeitigen strikten Regelungen; bei Investitionen, die neues öffentliches Vermögen schaffen, erlauben wir eine begrenzte Kreditaufnahme. So schaffen wir öffentliches Vermögen, das uns allen gehört, denn die Rendite öffentlicher Investitionen ist hoch, während der Bund keine Zinsen für seine Kredite bezahlt. Das schafft ein hohes und nachhaltiges Wirtschaftswachstum, das sicherstellt, dass unsere Schulden im Verhältnis zur Wirtschaftskraft weiter abnehmen. Die kluge Unternehmerin spart nicht, sie investiert. Der kluge Staat tut es ihr gleich.“
Und an anderer Stelle wird präzisiert:
„Wir wollen, dass Deutschland bei den öffentlichen Investitionen im Vergleich der Industrieländer vom Nachzügler zum Spitzenreiter wird, und in diesem Jahrzehnt pro Jahr 50 Milliarden Euro zusätzlich investieren.”
Dies lässt sich wie folgt übersetzen:
- Die Schuldenbremse soll reformiert werden, was nur über eine Grundgesetzänderung geht, die eine Zwei-Drittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat erfordert.
- Die strukturelle Defizitgrenze von 0,35% des Bruttoinlandsprodukts beim Bund und 0% bei den Ländern soll angehoben, aber an die Summe öffentlicher Nettoinvestitionen gebunden werden. Dies sagen die Grünen nicht explizit, ergibt sich aber logisch: Denn „neues öffentliches Vermögen“ heißt ja Nettoinvestitionen, also Bruttoinvestitionen ohne Ersatzinvestitionen. Dafür spricht auch die Hausnummer von 50 Milliarden zusätzlich pro Jahr (ca. 1,5% des BIP). Diese Zahl entspricht diversen Schätzungen des Nettoinvestitionsbedarfs der öffentlichen Hände. Der Investitionsbegriff wird von den Grünen nicht näher erläutert, entspricht aber in der üblichen Terminologie sicherlich der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung. Darunter fällt der Erwerb von Gütern mit langer Lebenszeit, also beispielsweise Kindergärten (ohne Personal wohlgemerkt).
- Dass öffentliche Investitionen „rentabel“ seien, könnte man wohlwollend als sprachlichen Lapsus oder ökonomische Umgangssprache interpretieren, denn jeder weiß, dass nur wenige öffentliche Investitionen im klassischen Sinne rentabel, aber die meisten im weitesten Sinne direkt oder indirekt produktiv sind.
- Die Analogie zur schwäbischen Unternehmerin verrät, dass hier kein makroökonomischer Ansatz gewählt wird, sondern mit der Nettoinvestitionsorientierung der staatlichen Verschuldung eine Art Bilanzansatz, wie ich es nennen würde – als wäre der Staat ein bilanzierendes Unternehmen, das seine Ersatzinvestitionen mit Abschreibungen finanziert, die selbst wiederum steuerfinanziert sind. Gleichwohl sollen öffentliche Investitionen laut den Grünen so produktiv sein, dass sie das Wirtschaftswachstum fördern und die Schuldenquote des Staates senken.
Brutto- und Nettoinvestitionen
Wie sind diese Vorhaben nun ökonomische zu bewerten? Schauen wir uns zunächst die öffentlichen Investitionen in Deutschland seit 1996 genauer an. Die Bruttoinvestitionen betrugen 2019 (bezogen auf den Gesamtstaat gemäß EU-Abgrenzung) 96 Milliarden bzw. 2,8% der Wirtschaftsleistung und waren damit so hoch wie noch nie seit 1996. Allerdings waren die Nettoinvestitionen mit 6 Milliarden bzw. 0,18% des BIP 2019 ungefähr so niedrig wie 1996. Die Differenz zwischen Brutto- und Nettoinvestitionen kann man als Ersatzinvestitionen bezeichnen, auch wenn sie in der Regel technologisch viel moderner sind, also nur funktional einen Ersatz darstellen. Da die Klassifizierung der Statistik auf Schätzungen, und nicht auf empirischen Erhebungen beruht, sind Abschreibung und Verschleiß oder Abgang nicht immer identisch. 2019 waren mehr als 90% der Bruttoinvestitionen in diesem Sinne Ersatzinvestitionen.
Betrachtet man die realen, also inflationsbereinigten Bruttoinvestitionen, dann sieht man von 1999 bis 2019 einen Anstieg um 1,1% pro Jahr, der überwiegend nach 2005 erfolgte. Die Nettoinvestitionen stagnierten dagegen auf dem Niveau von 1999. Eine genauere Analyse zeigt, dass die Nettoinvestitionen bei den Gemeinden über viele Jahre hinweg negativ waren, weil Ersatzinvestitionen nicht getätigt wurden, also auf Verschleiß gefahren wurde. 40% der staatlichen Investitionen tätigen die Länder und 30% die Kommunen, die finanziell stark von den Ländern abhängig sind. Offensichtlich besteht in Deutschland nicht nur ein Mangel an Nettoinvestitionen, sondern auch ein Rückstau bei Ersatzinvestitionen. Wir haben also ein Finanzierungsproblem sowohl bei Ersatz- wie bei Neuinvestitionen.
Aus der eingangs erwähnten (zumindest impliziten) Absicht der Grünen, jährliche Nettoinvestition von 50 Milliarden Euro kreditfinanzieren zu wollen, ergeben sich nun einige Fragen:
- Soll die geltende Defizitgrenze von 0,35% – das sind zurzeit ganze 12 Milliarden – auf 1,5% des BIP angehoben werden? Wenn ja, bekommen die grünen Pläne noch eine europäische Ebene: Denn dafür wäre eine Änderung des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts (SWP) erforderlich, der wiederum auf dem europäischen Fiskalpakt (FP) beruht bzw. auf dem EU-Vertrag (AEUV, Protokoll 12). Dieser kann nur einstimmig von allen 27 EU-Mitgliedsstaaten verändert werden. Der SWP gestattet ein strukturelles Defizit von 0,5%, das sind zurzeit 17 Milliarden. Das wäre aber eine grüne Bagatell-Reform, die nicht viel hilft.
- Soll die Defizit-Grenze im Grundgesetz nur für den Bund oder auch für die Länder angehoben werden, die zusammen mit den Gemeinden die Hauptinvestoren der öffentlichen Hand sind?
- Soll der Rückstau öffentlicher Investitionen, der infolge der Sparpolitik der Vergangenheit entstanden ist, also Ersatzinvestitionen, steuerfinanziert werden – und wenn ja, wie? Die von den Grünen ebenfalls gewünschte Einkommensteuerreform soll laut Programmentwurf mehr oder minder aufkommensneutral sein, während umweltschädliche Subventionen gestrichen und der Steuereinzug verbessert werden sollen. Ob dadurch genug Mittel eingespart bzw. zusätzlich eingenommen werden, ist mindestens fraglich, zumal die öffentliche Hand auch mehr Personal in vielen Bereichen benötigt, was gar nicht als Investitionen, sondern als konsumtive Ausgaben verbucht würde.
Man muss nicht alles in ein Wahlprogramm schreiben. Und gerade mit Blick auf die Fiskalpolitik sind die Grünen von allen relevanten Parteien mit Abstand die auskunftsfreudigste. Aber etwas genauer darf es dann doch sein, gerade wenn die offenen Fragen alles andere als trivial sind. Problematisch sind hier vor allem zwei Aspekte: die Fixierung auf Nettoinvestitionen und das (weitestgehende) Ignorieren der europäischen Rechtslage.
Warum nur Nettoinvestitionen kreditfinanzieren?
Es gibt mindestens fünf Argumente, die – von zwei notwendigen Einschränkungen (Inflation im Zielbereich und eine tragbare Zinslast) – für eine Kreditfinanzierung von Investitionen sprechen:
- Investitionen erfolgen häufig schubweise, und eine Gegenfinanzierung über Steuern würde bei einem Investitionsschub abrupte und starke Steueränderungen erfordern („Steuerglättung“).
- Eine Kreditfinanzierung würde die Steuerzahler von heute und morgen gleichermaßen am Nutzen und an der Finanzierungslast beteiligen („Generationengerechtigkeit“).
- Wenn Unterbeschäftigung und Deflationsgefahr drohen, ist expansive Fiskalpolitik nötig, um die an Wirkungskraft verlierende Geldpolitik zu unterstützen („Stabilisierungspolitik“ und „Policy-Mix“).
- Wenn ein Land starke chronische Leistungsbilanzüberschüsse hat, also (vereinfacht gesagt) zu wenig importiert im Verhältnis zu den Exporten, stärkt expansive Fiskalpolitik Wachstum und Importe – also das „außenwirtschaftliche Gleichgewicht“ (nur nebenbei: trotz globaler Rezession hat Deutschland seinen chronischen Leistungsbilanzüberschuss mit 6,0% behauptet).
- Staatskredit beruht überwiegend auf Anleihen, die am Ende der Laufzeit getilgt werden, indem neue Anleihen in gleicher Höhe emittiert werden – sie sind also quasi ewige Anleihen. Und bei einem Zinsniveau, das geringer ist als das nominale Wirtschaftswachstum, ist Kreditfinanzierung sehr günstig für den Staat, und definitiv günstiger als Steuerfinanzierung.
Diese Argumente gelten nicht nur für Nettoinvestitionen, sondern auch uneingeschränkt für Bruttoinvestitionen. Daher macht es makroökonomisch nicht wirklich Sinn, die angestrebte Ausweitung des staatlichen Verschuldungsspielraums auf Nettoinvestitionen zu beschränken, gerade angesichts des aufgelaufenen Investitionsstaus in Deutschland.
Die Nettoinvestitionsorientierung, die die Grünen vorschlagen, ist zu eng
Und man könnte noch weiter gehen: Investive Staatsausgaben sind nicht immer innovativ, und nicht-investive Ausgaben können extrem innovativ und produktiv sein. Das beste Beispiel für die produktivste (und vermutlich auch rentabelste) Ausgabe des Staates ist die Forschungsförderung, die BioNTech erhalten hat. Nach dem grünen Vorschlag erhöht die Generierung von bahnbrechenden Ideen nicht das Limit für Staatskredit, insoweit es sich um Personalkosten handelt, die als konsumtiv verbucht werden.
Man sollte selbstverständlich die öffentlichen Haushalte innovativ und zukunftsorientiert gestalten, bei allen Ausgabenkategorien. Das muss nicht mit der Definition von Investitionen in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung übereinstimmen. Wie auch die schwäbische Unternehmerin weiß, spielen auf lange Sicht Ideen und Wissen („Humankapital“) sogar eine größere Rolle als Sachkapital.
Was lernen wir daraus? Ein großer Teil des Investitionsstaus, also der Ersatzinvestitionen, wie auch der Zukunftsinvestitionen kann sehr wohl kreditfinanziert werden. Die Nettoinvestitionsorientierung, die die Grünen vorschlagen, ist zu eng. Aber selbst wenn sie darauf insistieren würden, nur 50 Milliarden Nettoinvestitionen jährlich mit Anleihen zu finanzieren, landen sie sehr schnell auf der nächsten Baustelle: den europäischen Fiskalregeln – zu denen die Grünen im Programmentwurf sehr wenig zu sagen haben.
Die Notwendigkeit einer europäischen Zwillingsreform
Laut dem Entwurf soll auf europäischer Ebene der SWP investitionsfreundlicher reformiert werden, und zwar für alle Mitgliedsländer – der „Spardruck“ solle nicht zu hoch werden, so die Grünen. Darüber hinaus soll die EU eine „eigene Fiskalpolitik“ bekommen, aus einer Verstetigung des Wiederaufbaufonds heraus resultierend. Das heißt in meiner Lesart: Es soll auch nach der Corona-Krise eine eigene Verschuldungsoption für die EU als Ganze geben. Eine „eigene Fiskalpolitik“ der Union bedarf aber – vermutlich – einer Vertragsänderung, unter anderem von Artikel 310 des EU-Vertrages (AEUV). Denn die rechtliche Konstruktion für die Legitimierung der Kreditaufnahme beim Wiederaufbaufonds beruht auf nicht wiederholbaren Sonderfaktoren. Ansonsten fordert Artikel 310 beim EU-Budget eine Schwarze Null (ohne diesen Begriff zu verwenden).
Forderungen nach EU-Vertragsänderungen ergeben sich geradezu zwingend, wenn es die Grünen mit einer Neuausrichtung der deutschen Fiskalpolitik ernst meinen
Der SWP kann zwar ohne Änderung des Fiskalpakts oder EU-Vertrags reformiert werden, aber ganz ohne Vertragsänderung ist der Reformspielraum sehr gering. Der Fiskalpakt erlaubt ein höheres strukturelles Defizit (1,0% statt 0,5%), wenn der Schuldenstand „deutlich“ unter 60% liegt. Er steht jedoch in Deutschland mit 70% (Schätzung für 2021) darüber. Dem Wortlaut nach könnten die Nettoinvestitionen nur um ganze 0,15 Prozentpunkte, etwa für die Bundesländer, erhöht werden – also ein Zehntel dessen, was die Grünen anstreben.
Allerdings muss man beachten, dass diese juristischen Grenzen durchaus von der politökonomischen Realität ausgehebelt werden könnten. Der Fiskalpakt ist kein EU-Recht, sondern „nur“ ein völkerrechtlicher Vertrag ohne Sanktionsmöglichkeiten. Der EU-Vertrag sagt im Protokoll 12 lediglich etwas zur Defizitgrenze von 3% und der Schuldengrenze von 60%, nichts zu Grenzen für strukturelle Defizite (wenngleich letztere von der 60%-Grenze abgeleitet sind). Außerdem sollte der Fiskalpakt bis 2018 in europäisches Recht überführt werden, so dass das Verfallsdatum eigentlich überschritten ist. Der SWP ist europäisches Sekundärrecht und kann durch Richtlinien und Verordnungen geändert werden. Würde Deutschland das erlaubte strukturelle Defizit wesentlich erhöhen – sagen wir auf je 0,75% für Bund für Länder – wäre auch der Fiskalpakt in wesentlichen Teilen geknickt und vielleicht auch die Tür geöffnet für eine Änderung von Protokoll Nr. 12 (dem ohnehin jegliche ökonomische Begründung fehlt, insbesondere für die 60%-Schuldengrenze).
Wenn die Grünen stärker als bisher im Blick haben, dass sie möglicherweise Seniorpartner in einer Regierung der größten Wirtschaftsmacht Europas werden, wären sie gut beraten, deutlicher zu sagen, welche fiskalpolitische Zwillingsreform sie wollen. Bitte etwas machtbewusster! Dazu gehört auch die Forderung nach mehreren Vertragsänderungen in Brüssel: Integration des Fiskalpakts in EU-Recht, Änderung von Protokoll 12, Änderung Artikel 310, grundlegende Änderung des SWP. Diese ergeben sich geradezu zwingend, wenn es die Grünen mit einer Neuausrichtung der deutschen Fiskalpolitik ernst meinen.
Zum Autor:
Jan Priewe ist Professor a. D. für Volkswirtschaftslehre an der HTW Berlin.
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